Freddy - Fremde Orte - Blick
schlimmer. So wie Miriam die Sünden ihres Vaters vor Gott und die Menschen bringen musste, so musstest du meine Sünden vor Gott und die Menschen bringen. Ich verstehe, dass es keinen anderen Weg gab. Ich bereue, was ich getan habe.
Diesen inneren Monolog sprach sie während einer Redepause ihrer Mutter. Die Redepause dauerte noch an, als Sonja bereits damit fertig war. Ich habe es nicht ausgesprochen , begriff sie plötzlich. Ich habe nur mit mir geredet. Ich muss … ich muss …
„Mama“, begann sie. „Ich habe …“
„Du kleine Närrin“, fuhr die Frau am Mikrofon dazwischen, und ihre Stimme hatte sich weiter verfremdet. „Erkennst du mich denn immer noch nicht? Hast du immer noch nicht begriffen, worum es hier geht? Ich bin nicht deine Mama.“
Die Hitze verschwand aus Sonjas Körper. Kälte nahm ihren Platz ein.
„Ich habe nur ihren Körper, ihre Stimme benutzt, um zu sprechen. Sie war die Schwächste hier, also habe ich sie mir genommen. Für jemanden, der diese verfluchte kleine Kirche in Schutt und Asche legen wird, ist es kein Problem, einen Menschen zu versklaven, zumal einen, der ohnehin schon ein Sklave ist. Erkennst du mich jetzt? Weißt du jetzt, wer zu dir spricht? Vor dir steht nicht deine Mutter, kleine Sonja, vor dir steht dein Gott.“
„Freddy!“, kreischte sie mit überschnappender Stimme.
Sie war nicht die einzige, die schrie. Denn an der Seitenwand fielen zwei Bilder herab, große, schwere Gemälde. Die Schläge beim Aufprall auf dem Steinboden erinnerten an Artilleriefeuer.
„Freddy!“, krächzte die Frau. Sie klang jetzt ganz und gar nicht mehr nach einem Menschen. „Was für ein niedlicher Name … Freddy war mehr als dein Freund, mehr als ein Kuscheltier, das weißt du, mehr noch als dein Lebensretter. Es gab Momente, da hast du es gespürt. Selbst heute, da du eine junge Frau bist, schleppst du mich noch in deiner Tasche zur Kirche, nicht wahr? Was du deiner Mutter angetan hast, ist nicht von Belang. Ich bin dein persönlicher Gott und nicht weniger als das. Und weißt du was, Sonja? Ich kann gütig sein, wie du es erfahren hast, aber wenn man mich verrät und verleugnet, bin ich ein zorniger, eifersüchtiger Gott.“
Ein Windstoß riss Seiten aus der Bibel und wühlte die Gesangbücher auf den Bänken auf, als wolle er sich dort auch bedienen.
„Denkst du, ich mag es, Sonja, wenn man einem anderen Gott die Treue schwört? Einem Gott, der nie etwas für dich getan hat? Denkst du wirklich, ich kann diese Konfirmation zulassen, ohne entweder dich oder diesen anderen Gott zu vernichten?“
„Ich“, keuchte das Mädchen, „ich verehre dich … immer noch … Ich …“
„Das sehe ich! Deshalb hast du mich zu Boden geworfen wie einen alten Lumpen, nicht wahr?“
Sonja warf sich herum und rannte los. Bis zu dem zerschlissenen Plüschaffen waren es nur wenige Schritte. Sie schlitterte auf dem glatten Boden, riss die Puppe an sich und drückte sie, so fest sie nur konnte, gegen ihr Herz.
„Wir werden sehen“, zischte ihre Mutter ins Mikrofon, „wer hier der stärkere Gott ist …“
Sonja brach zusammen. Sie war überzeugt davon, dass gleich Steine aus dem Gewölbe fliegen würden. Freddy würde seine ganze Macht demonstrieren. Vielleicht hatte sie eine Überlebenschance, wenn sie den Plüschkörper nicht losließ, wenn sie ihn vor sich selbst beschützte, wie er einst sie vor sich selbst beschützt hatte. Und wenn sie doch sterben musste, dann war es eben so. Sie hatte es verdient. Sie begriff jetzt die Zusammenhänge, verstand, dass sie nicht nur einen, sondern viele Fehler begangen hatte. Sie hatte ungefähr alles falschgemacht, was man falschmachen konnte.
Sie vernahm ein Knarren, ein Knarzen. Es passte nicht zu der Vorstellung einer einstürzenden Kirche. Es klang nach Holz. Würde Freddy die Bänke bersten lassen? Um sie herum klangen Schreie auf, Schreie aus allen Mündern. Sie hörte Onkel Werner heraus, den Pfarrer, sogar ihre Mutter, die richtige Stimme ihrer Mutter. Freddy hatte sich aus ihr zurückgezogen.
„Wir nehmen die Herausforderung an!“, kreischte eine Mädchenstimme – sie gehörte Miriam. „Wir geben dieses Haus Gottes nicht kampflos auf. Wir stellen uns dem Satan!“
Das Knarzen wurde lauter, ebenso das Schreien. Jemand zerrte an Sonjas Schulter, sie stieß ihn zurück, kickte mit den Füßen, damit man sie in Frieden ließ. Sie hätte sich liebend gerne die Ohren zugehalten, damit der Lärm aufhörte, doch dazu hatte sie keine
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