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Freddy - Fremde Orte - Blick

Freddy - Fremde Orte - Blick

Titel: Freddy - Fremde Orte - Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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nachdem sie nichts mehr fand, das sich zu zerreißen lohnte. Weder Sonja noch Miriam noch sonst einer der Anwesenden waren direkt attackiert worden. Der Kampf schien sich tatsächlich auf die beiden Götter, nein, die beiden Figuren, beschränkt zu haben.
    Als der Albtraum vorüber war, brach Miriam einfach zusammen. Ihre Mutter, die neben ihr stand, fing sie auf. Sonja saß vorübergebeugt in der Bank, den Kopf auf ihre Arme gebettet, und niemand wusste, ob sie bewusstlos oder nur erschöpft und traurig war.
    Onkel Werner lief zum Hauptportal, dessen Riegel sich nun mühelos nach oben drücken ließ. Er stieß einen Türflügel an, und das Portal öffnete sich mit einem dezenten, beinahe melodischen Knarren.
    „Ich gehe zwei Krankenwagen rufen“, rief er und verschwand nach rechts. Es war, als verlasse er eine Bühne. Das Stück war beendet, der Vorhang gefallen.

8
    Nachdem man Sonja und Miriam, die beide nicht ansprechbar waren, auf Bahren gelegt und in die Rettungswagen geschoben hatte, wandten sich vier Polizeibeamte an die sechs noch anwesenden Personen. Die Fragen der Polizisten überforderten sie alle. Es gelang ihnen nicht, die Geschehnisse der letzten halben Stunde (länger hatte das Grauen nicht gedauert) so wiederzugeben, dass sie einen Sinn oder wenigstens ein anschauliches Bild ergaben. Bei dem Versuch, die zerstörte Jesusfigur, die Schäden an der Kirche oder die verstreuten Stofffetzen zu erklären, versagten sie. Sie stammelten, begannen immer wieder von neuem und gaben schließlich unter zahlreichen Entschuldigungen auf. Jeder von ihnen hatte das Gefühl, irgendwie verstanden zu haben, was hinter dem Geschehen stand, aber keiner hätte es in Worte fassen können.
    Nur eine der Personen äußerte sich ruhig und in vollständigen Sätzen zu den Vorfällen. In vollständigen englischen Sätzen.
    Der junge Brite erklärte in kühlem Tonfall, die beiden pubertierenden Mädchen Sonja und Miriam hätten ihre immensen inneren Probleme auf die äußere Welt projiziert und damit paranormale Phänomene geschaffen.
    Sonjas Onkel Werner, der während des Gesprächs neben dem Briten stand, fand den Gedanken faszinierend und spann ihn innerlich weiter, ohne die Polizei an seinen Überlegungen teilhaben zu lassen. In der Plüschfigur Freddy hatte sich offenbar nicht nur die Trauer und Wut seiner Nichte über den Verlust ihres Vaters manifestiert, sondern auch ihre Vorwürfe gegenüber sich selbst. Es war ihr an der Oberfläche gelungen, ihr schlechtes Gewissen gegenüber ihrer Mutter zu unterdrücken, doch nur, indem sie es in Gewissensbisse gegenüber ihrem Stofftier umwandelte. Deshalb ließ sie ihre Mutter mit fremder Stimme die Anklage gegen sich, Sonja, sprechen, die sie ihr zweifellos selbst in den Mund legte. Ihre Konfirmation musste ihr immer mehr wie ein Verrat an dem Wesen vorgekommen sein, das in ihrem Leben die Rolle von Gott eingenommen hatte. Als das Glaubensbekenntnis und die Einsegnung nahten, brachen all die unbewältigten Gefühle, das komplette Grauen ihrer Kindheit heraus.
    Miriam ihrerseits hatte beim Gott der Christen nach Kraft gesucht, nach Mut, ihren Vater endlich öffentlich anzuklagen. Als die von Sonjas Geist geschaffenen Phänomene die Zeremonie kurz vor der Stelle unterbrachen, auf die sie lange Zeit gewartet hatte, und als der vermeintliche Satan sich gegen die heiligsten Elemente der Kirche wandte, war ihr Leid, ihre Wut ebenfalls nicht mehr zu bändigen gewesen.
    Im Grunde hatten sie sich beide dafür gerächt, ihre Kindheit verloren zu haben. Sie hatten sich aneinander gerächt, obwohl keine von ihnen die geringste Schuld am Leid der jeweils anderen hatte. So war das manchmal. Meistens. Man rächte sich nicht am Schuldigen. Man rächte sich an denen, die gerade verfügbar waren.
    So musste es gewesen sein.
    So konnte man es – einen dem Übersinnlichen aufgeschlossenen Geist vorausgesetzt – nachvollziehen. Die andere Erklärungsalternative (dass zwei Götter sich gebalgt und zerstört hatten) war vollkommen undenkbar.
    Onkel Werner begriff an diesem Tag nicht nur, dass es das Übernatürliche gab, er begriff auch, dass man es – manchmal zumindest – erklären und durchschauen konnte.
    „Verzeihen Sie“, wandte er sich an den Briten, als der Polizeibeamte endlich von ihm abließ. „Was heute geschehen ist, das ist … ich meine … es hat mein Weltbild komplett auf den Kopf gestellt. Falls es … Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich gerne einmal ein Stündchen mit

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