Freddy - Fremde Orte - Blick
büßen!“, knurrte Miriam. Sonja war es, als verstärke die Holzfigur ihren Griff. Sonja wand sich zuckend, kam für einen Moment frei und rutschte ein paar Zentimeter vorwärts. Ihr Gesicht presste sie gegen den Fußboden. Sie hatte panische Angst davor, dass die hölzerne Hand sich in ihre Haare krallen, ihren Kopf erst zurückziehen und dann gegen den Stein hämmern würde. Sie fürchtete die Schmerzen, das Blut und noch mehr die Ohnmacht. Wenn sie das Bewusstsein verlor, konnte sie Freddy nicht mehr beschützen.
Inzwischen war Onkel Werner zu Julies Onkel hinübergelaufen. „Sie scheinen eine Ahnung zu haben“, brüllte er ihn aufgeregt an. „Sagen Sie uns, was wir tun können, schnell!“
„Difficult“, erwiderte der Brite nur. Seine Blicke wirkten gleichmütig, doch seine dünnen Lippen pressten sich aufeinander.
„Wenn es Götter sind“, begann Onkel Werner, „dann kann man sie nicht besiegen. Dann … dann müssen wir sie besänftigen.“
„I am sorry, I do not understand“, meinte sein Gegenüber.
„Herrgott! Was können wir tun? What! Can! We! Do!“
Der Brite wich zurück, offenbar um nicht von Onkel Werners Spucke getroffen zu werden. „Let the gods fight among themselves“, entgegnete er dann viel zu leise, viel zu distanziert. „Make the girl let go of the toy. If she doesn’t abandon it, she will die.“
„Okay!“, rief Onkel Werner. „Okay. Wenn ich recht verstanden habe, muss Sonja den Affen loslassen. Nicht wahr? Nicht wahr?“
„Yes“, sagte Julies Onkel.
„Neeeiiin!“, schrie Sonja.
„Du musst, Sonnenschein, du musst! Der Mann hat recht. Dieses … Ding will dich nicht töten. Es will nur Freddy.“
„Dann muss es … erst durch mich durch …“
„Du sollst nicht töten“, klang die Stimme von Pfarrer Schindel auf. „Du sollst nicht töten.“
Miriam lachte. „Ein Pfaffe predigt dem Herrn die Zehn Gebote – köstlich!“
Die Christusfigur rollte sich auf den Rücken. Da sie Sonja dabei festhielt, lag diese plötzlich in Rückenlage auf dem Hölzernen. Miriams Vater stürzte auf die Kämpfenden zu, packte Sonjas auf der Brust verschränkte Arme und zog daran. Auch die Figur zerrte an den Armen, und Sonja musste zuckend, strampelnd, weinend und schreiend hinnehmen, dass ihr Griff gelockert wurde. Der Hölzerne griff nach Freddy, doch Miriams Vater war schneller. Er entriss ihr den Affen, schleuderte ihn von sich in den hinteren Teil des Mittelgangs und hielt Sonja zurück, die sich trotz ihrer Schmerzen sofort aufrichten und hinterherrennen wollte.
„Lass mich los, du Kinderschänder!“, brüllte Sonja, doch der Mann drückte sie mit seinem ganzen Körpergewicht zu Boden. Die riesige Holzfigur dagegen löste sich von dem Mädchen, erhob sich schwerfällig und schwankte mit langsamen Schritten durch den Gang. Ein widerliches Knarzen und Quietschen erfüllte die Kirche.
„Bitte!“, stieß Sonja hervor. „Bitte rettet Freddy! Irgendjemand! Onkel Werner, hol ihn zurück. Lass nicht zu, dass er ihn bekommt. Hört doch auf mich. Er ist nicht böse. Bitte, ich will ihn nicht auch noch verlieren, nicht auch noch Freddy …“ Ihre Worte gingen in verzweifeltem Schluchzen unter, als sie erkannte, dass niemand bereit war, ihr zu helfen.
Der Gekreuzigte hatte die Stelle erreicht, wo das Plüschtier lag. Er ging in die Knie, reckte die Hände danach. Da löste sich etwas aus der Decke. Keine Lampe. Ein Stein. Traf ihn an der Schulter. Warf ihn zu Boden. Ließ etwas an ihm splittern. Die Holzfinger griffen nach. Erwischten den Affen. Seinen Kopf. Ein Bein. Die Hände rissen an Freddy. Ein Bein riss ab. Es knarrte. Ein Stück einer Banklehne schnellte heran wie von einer Feder katapultiert.
Sonja saß in einer Bank und hielt den Blick gesenkt. Pfarrer Schindel wandte sich ab. Die anderen konnten nicht wegsehen. Fünf lange Minuten starrten sie mit fiebrigen Augen auf den bizarrsten Kampf, bei dem sie je Zeuge geworden waren und je Zeuge werden würden. In diesen fünf Minuten wurde der Affe von lackierten Holzhänden in einen Haufen Mohair, Filz und Holzwolle verwandelt. Eines der braunen Augen war weit durch den Mittelgang gerollt und hatte erst vor dem Altar haltgemacht, das andere lag unter irgendeiner Bank. Der Christusfigur war durch herabfallende Deckenteile zunächst eine Hand, dann der Kopf abgeschlagen worden. Nur allmählich kehrte Ruhe in die Kirche ein. Zuerst endete der Zerlegungsprozess der Kirche, etwas später kam die Holzfigur zum Stillstand,
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