Freddy - Fremde Orte - Blick
einem Ort zum nächsten.“
„Als würden sie durch ein besonders langsames Stroboskop beleuchtet“, murmelte der Feuerwehrmann.
Sie sahen sich mit großen Augen an.
3
„Das wirst du nicht erleben, dass ich freiwillig nach Japan zurückgehe.“
Madoka verstaute ihr Tagebuch, in dem sie eben noch unbeirrt Eintragungen gemacht hatte, in ihrem Nachttisch. Sie legte den Stift säuberlich in die Ablage und warf die schweren dunklen Haare zurück. Erst dann nahm sie sich Zeit, um ihren seltenen Gast zu mustern. Eine große Portion Skepsis lag in ihrem Blick.
„Ich verstehe dich nicht“, sagte Melanie. „Du möchtest nicht wissen, was hinter alldem steckt? Du möchtest nicht endlich einmal einen Schlussstrich unter das ziehen, was zwischen dir und mir steht?“
Sie kam sich vor wie in der Höhle des Löwen. Die ganze Nacht hindurch war sie wachgelegen, hatte die Informationen in ihrem Kopf hin und her geräumt wie einen Haufen Gerümpel, unter dem man etwas Wertvolles vermutete. Werners Eröffnungen über den ominösen Super-8-Film, den er und Sir Darren vorgefunden hatten, als sie zum ersten Mal nach Falkengrund kamen, hatten eine Menge neuer Fragen aufgeworfen. Wenn es stimmte, dass der Film eine eigene kleine Welt in sich trug (ein Pseudojenseits , wie Sir Darren es genannt hatte), warum hatte sie selbst diese Welt dann betreten können? Warum war sie oder ihre Seele dort gewesen, hatte die Menschen gesehen, die den Film drehten, und warum hatte sie sich verändert, als sie zurückkehrte? Warum – verdammt noch einmal! – war irgendjemand fortan in der Lage, die Welt durch ihre Augen zu sehen?
Der Film war aus dem Versteck im Keller Falkengrunds gestohlen worden und befand sich, so Werners Vermutung, jetzt in Japan. Madokas Vater, der Psychiater Dr. Fumio Andô, und ihr Bruder Kazuo, hatten Madokas Aufenthaltsort von Japan aus gesehen. So unglaublich es klingen mochte – sie mussten sie tatsächlich durch Melanies Augen hindurch wahrgenommen haben. Eine andere Erklärung gab es nicht. Bedeutete das, dass sich der Film im Besitz von Dr. Andô befand? Momentan war es der einzige Anhaltspunkt, den sie hatten. Auch wenn ihr die Zusammenhänge nicht klar waren, der Film musste der Schlüssel sein.
„Ich weiß nicht, wo sich mein Vater aufhält“, sagte Madoka.
Melanie fixierte sie ernst. Sie saßen sich in Madokas Zimmer gegenüber. Die Japanerin selbst hatte auf ihrem Bett platzgenommen. Ihre Zimmergenossin Isabel Holzapfel war nicht anwesend. „Aber du könntest es herausfinden“, behauptete Melanie.
„Schon möglich. Gesetzt den Fall, er ist nicht vollkommen untergetaucht. Aber ich habe es bereits gesagt: Ich lege keinen Wert darauf, Deutschland zu verlassen.“
„Weil du Angst hast, deine Tarnung könnte auffliegen.“
Melanie hatte sich nur widerwillig zu einem Gespräch mit der Person entschlossen, die sie von allen Menschen auf Falkengrund am wenigsten leiden konnte. So vieles war zwischen ihnen geschehen: Vor einigen Wochen hatte die Japanerin ihr noch gedroht, sie zu töten, und später hatte sie sie vor allen eine Spionin genannt. Dazu kam die Sache mit Artur. Melanie mochte den Studenten, der erst diesen Sommer zu ihnen gestoßen war, doch obwohl sie so viel für ihn getan hatte, hatte er sich mit einem Mal Madoka zugewandt, angeblich, weil er in ihr eine Seelenverwandte sah. Es hing mit dem Schutzgeist zusammen, den er gehabt hatte – auch Madoka hatte einen solchen ihr eigen genannt, und beide hatten sie ihn verloren, jeder auf seine Weise. Arturs Schutzengel war ihm von Margarete Maus in einem Ritual genommen und in einen Bernstein gebannt worden. Madoka hatte den ihren bei einem Selbstmordversuch eingebüßt. Schutzengel überlebten so etwas offensichtlich nicht. Die beiden waren also Leidensgenossen. Okay, Melanie akzeptierte das. So etwas verband. Aber dass Artur, der sich zuvor ihr anvertraut hatte, nun Abstand zu ihr hielt und sich nur noch mit diesem … Finsterfisch traf, daran konnte sie sich einfach nicht gewöhnen. Es war nicht nur Rivalität im Spiel. Sie fürchtete, Arturs neue Freundin könnte einen schlechten Einfluss auf den ohnehin unsicheren, verschlossenen jungen Mann haben.
„Was meinst du mit Tarnung?“, fragte Madoka. Sie gab sich ungerührt und hatte ihre Miene perfekt im Griff, doch ihre weißen Hände verkrampften sich um die Ränder der Bettdecke, auf der sie saß. Melanie hatte ein Thema angeschnitten, das der Asiatin nicht behagte.
„Ich rede
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