Frederikes Hoellenfahrt
Familiennamen konnten sie Lippi auch nach zig Vergleichen und Recherchen und Anrufen nicht in Verbindung bringen. Ehrlicher trank bestimmt die fünfte Tasse Früchteteemischung, die Agnes Schabowski braute und vor ihn hinstellte. Der Tee schmeckte, auch wenn er Appetit auf einen Kaffee hatte. »Vielleicht bringt uns eine Pause auf andere Gedanken?«
»Vielleicht. Hunger hätte ich schon.«
»Aber nicht in die Kantine.« Mit Grausen dachte er daran zurück.
»Kantine schmeckt immer noch scheußlich.«
»Trinken wir einen Kaffee und essen was Kleines.«
»Und essen was Kleines.« Agnes Schabowski ließ sich zu einem Gang in die Stadt überzeugen.
Sie zogen ihre Jacken über und verließen das Präsidium. Ehrlicher winkte den Reportern ab, die auf ihn zustürzten. »Sie wissen, dass ich nicht mehr im Beruf bin und mein Rentnerdasein genieße.«
»Sie hatten direkten Kontakt mit den Kidnappern? Sie haben das Lösegeld überbracht?« Haben, waren, sind Sie dabei gewesen? Die Fragen überschlugen sich, er konnte nur einzelne Wörter verstehen.
»Sie täuschen sich, meine Damen und meine Herren, ich bin als Privatperson hier.« Ehrlicher bedauerte, nicht den Hinterausgang gewählt zu haben. Mit Miersch war er an den Journalisten vorbei ins Gebäude gelangt. Jetzt richteten sie ihre Mikrofone auf ihn, als wollten sie ihn damit erstechen.
Agnes Schabowski schob ihn einfach durch die drängende Meute. Hände vors Gesicht und einfach durch! lautete ihre Anweisung. Sie hatte zur Presse offensichtlich ein sehr rationales Verhältnis und ließ sich auf die Spielerei gar nicht ein. Ehrlichers Respekt ihr gegenüber wuchs. So wie Agnes Schabowski und er die letzten Stunden zusammen gearbeitet hatten, verstand er kaum noch, warum er diese Frau einmal nicht hatte leiden können. Inkompetenz und Karrieregeilheit mochte Ehrlicher ihr nicht mehr unterstellen. Sie verstand was vom Job, dachte unorthodox und hatte Durchsetzungskraft. Taffes Persönchen, würde Tommi wohl sagen. Ehrlicher hatte Agnes Schabowski sogar, wenn alles vorbei war, auf einen Kaffee zu sich nach Hause eingeladen. Die Kollegin hatte seine Einladung angenommen. Sehr gern, Herr Kommissar, sehr gern komme ich. Ehrlicher freute sich wirklich.
Aber im Fall, da kamen sie nicht weiter. Sie hatten alle Namen im Telefonbuch befragt. Lippok. Lipka. Lipus. Sie hatten die Kollegen des Streifendienstes zu den Adressen geschickt, nach Kindern und Enkelkindern, Nichten, Neffen und Cousinen fragen lassen. Lippik. Lipatow. Lipfert. Die heiße Spur war nicht dabei gewesen. Kein Ergebnis. Lipinski. Lipper. Lipsdorf. Nicht selten in ihrem Job. Lippi schien kein Spitzname zu sein, den die Angesprochenen in ihren Familien kannten.
Ehrlicher lief mit Agnes Schabowski über Grünflächen, auf denen Studenten lernten und Paare spazierten. Familien bliesen Sonnabend zum Großeinkaufstag. Pakete und Beutel zeugten vom Erfolg. Ehrlicher sah die Menschen und begriff nicht, dass das Leben hier einfach seinen Gang ging, als hätte es das Kidnapping und die Toten nicht wirklich gegeben. Frederike und Kain!
»Ich hoffe, sie ist noch am Leben.« Er musste es sagen. Eher zu sich als zu jemand anderes.
»Sie stehen Frederike sehr nah?«
Ehrlicher hatte noch niemand diese Frage so direkt gestellt. Und er hatte sich bislang geweigert, darüber nachzudenken. Nach dem Tod seiner Frau wollte er keine feste Bindung mehr eingehen. Frederike war da, wenn er sie brauchte, und nicht da, wenn er sie nicht brauchte. Auch ihr schien dieses Verhältnis zu genügen. Aber wenn sie nie mehr da wäre, wäre er nicht mehr er selbst. »Sie ist mir so wichtig wie mein Sohn.« Er staunte selbst über das, was er sagte. »Aber Kinder muss man loslassen können. Im Alter benötigt man Menschen, die einen brauchen.«
»Kinder brauchen die Eltern.«
»Nicht wirklich.«
»Doch.«
Und mit einem Mal wurde das Gesicht von Agnes Schabowski zur Maske.
»Sie sind einsam«, stellte Ehrlicher fest.
Agnes Schabowski begann zu schluchzen. Ehrlicher war von dieser Reaktion überrascht. Er zögerte, doch dann legte er seinen Arm um ihre Schultern. Sie ließ es geschehen.
Sie liefen sehr langsam am Rande des Parks, wie ein Vater mit seiner traurigen Tochter. Kinder lärmten an ihnen vorbei. Straßenbahnen klingelten und schrammten um die Kurven. Der Autoverkehr riss nicht ab.
»Mein Sohn heißt Paul«, stellte sie sachlich fest.
»Er ist nicht bei Ihnen?«
»Er ist behindert.«
Ehrlicher sagte kein Wort. Am Himmel
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