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Frederikes Hoellenfahrt

Frederikes Hoellenfahrt

Titel: Frederikes Hoellenfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henner Kotte
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ist nicht heiß.«
    »Was für eine Spur haben Sie denn?«
    »Lippi.«
    »Lippi?«
    »Ja, Lippi.«
    »Lippi hieß in der DDR mal ein Sänger. Lippert, Wolfgang. Erna kommt, heut ist der Jag, an dem Erna kommt. Erna kommt, und wenn sie sagt, sie kommt, kommt sie prompt. Ein Ohrwurm. Sie kennen ihn vielleicht. Und er hat einige Folgen Wetten, dass …? erfolglos moderiert.« Erna kommt. Er hatte tatsächlich zu singen begonnen. »Unmöglich. Es gibt Melodien, die einem zeitlebens nicht aus dem Kopf gehen.«
    »Ja.«
    »Ich muss bei diesem Fall dabei sein, und in der Zentrale bin ich im Wege. Die brauchen mich nicht. Das sehe ich ein. Wenn auch schwer. Dort kann ich nicht helfen.« Der alte Kommissar rutschte mit seinem Fuß übers Linoleum. Agnes Schabowski war andere Auftritte von ihm gewöhnt. Sie hatte ihn sogar verhaftet, nur weil Ehrlicher nicht vom Ermitteln lassen konnte. »Miersch meinte, vielleicht wäre ich hier bei Ihnen von Nutzen.« Er suchte nach einer Erklärung. »Die beiden im Auto sind Frederike und Kain, meine Freunde. Meine besten Freunde.« Er holte tief Luft. »Ich kann nicht zu Hause sitzen und nichts tun. Frau Agnes Schabowski, ich bitte Sie.«
    Schabowski lächelte. Der Mann war am Ende, wusste nicht weiter. »Einen Tee?«
    Ehrlicher atmete auf. »Ich nehme gern einen Tee.«
    Tee hatte sie Ehrlicher noch niemals trinken gesehen, glaubte Schabowski. Er litt. Vielleicht konnte er ihr wirklich helfen. »Sie meinen, Lippi könnte auch ein Name sein?«
    »Ja.«
    »Wäre möglich.« Schabowski schob einen Stuhl aus der Beratungsecke hin zum Computer. Dann drückte sie den Wasserkocher erneut. Lippi – ein Name: Lippert. Lippmann. Lipfert … Es war eine Chance.

11:50
     
    Der Zug raste, raste ohne Zwischenhalt. Ein Sonderzug, Richtung Pionierlager. Sie hatten ihr das Reiseziel nicht verraten. Wahrscheinlich sollte es eine Überraschung werden. Meer wäre ihr lieber als Gebirge. Sie mochte das am Strand liegen mehr als das Wandern. Allein schon die Schuhe dafür waren sehr schwer und nicht schick. Aber sie war sich nicht sicher, ob Mutti auch den Badeanzug eingepackt hatte. Sie konnte sich überhaupt nicht erinnern, dass sie einen Koffer getragen hatte, als sie zum Bahnhof ging. Sie lächelte, als Mutti ihr den Kuss auf die Wange setzte. Viel Spaß, mein Kind! Und Mutti hatte Schöne Tage! gewünscht. Sie glaubte, sie hatte geweint und ihre Arme um Mutti geschlungen. Und Mutti hatte gesagt: Du kommst doch wieder. Ich hole dich ab. Viel, viel Spaß wirst du haben mit all den anderen Kindern!
    Der Zug raste, raste ohne Zwischenhalt. Frederike hatte ihren Sitznachbarn gefragt, ob er gestatte, sie vorbeizulassen, sie müsste mal auf Toilette. Da sagte der Mann, es gäbe im Zug gar keinen Abort. Sie war erschrocken, als sie ihn ansah. Schwarze Haut und weißer Mund und ganz weiße Augen. Mutti konnte sie doch nicht nach Afrika in den Urlaub schicken! Das war doch teuer!
    »Mach in die Hosen!«, sagte der schwarze Mann.
    So was von unfreundlich! Er hatte sie wirklich nicht vorbeigelassen. An der anderen Seite war das Fenster, da kam sie nicht raus. Stunden hatte sie sich gequält. Jetzt war Schluss, sie hielt’s nicht mehr aus. Frederike weinte, und der Urin lief ihr die Beine entlang und in die Polster der Sitzbank. Sie würde nie wieder aufstehen können. Erst wenn das Wasser getrocknet war. Aber in ihrem Kleid würde man bestimmt einen Fleck sehen. Mutti würde sehr schimpfen mit ihrem großen Mädchen. Aber ein Zug ohne Toilette! In den Waschsalon kam die Hygiene und inspizierte fast jeden Monat Klobecken, Friteuse, Töpfe und Kannen. Und hier im Zug war kein Klo! Wie sollte sie es bis Afrika aushalten?
    Und Mutti war immer so tief enttäuscht, wenn sie in die Hosen gemacht hatte. Du bist doch kein Baby. Babies verzeiht man. Aber sie hatte doch gar keine andere Chance! Sie musste! Ihr Urin machte sie frösteln.
    Der Zug raste. Bäume und Häuser flogen vorbei. Sie winkte manchmal den Leuten. Sie winkten ihr nicht zurück. Ihr Zug fuhr zu schnell. Die da draußen sahen sie nicht. Frederike hatte die Schilder gelesen: Röszke und Arad, Subotica und Novi Sad, Belgrad. Sie glaubte sich erinnern zu können, dass auch dort der Krieg gewesen war. Milosevic. Karacic. Saddam Hussein. Dieser Krieg hatte ihr den Vater genommen. Mutti hatte sehr geweint. Frederike hatte ihr ihr liebstes Spielzeug geschenkt. Albert, eine Lumpenpuppe mit roten Haaren und einem Lachen, das fröhlich machte. Aber Mutti hatte das

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