freeBook Kein Espresso fuer Commissario Luciani
bewahrte er die
Videos aller fünf Wimbledon-Siege des Schweden auf, um sie sich an langen Winterabenden wieder und wieder anzusehen. »Der
Schlüssel ist die Konzentration«, wiederholte er, »die Konzentration und das Ausschalten von Fehlern.« Er stellte sich einen
Meter hinter die Grundlinie und schlug die Bälle zurück, Vorhand, Rückhand, einen wie den anderen, immer fünfzig Zentimeter
über die Netzkante und zehn Zentimeter vor die gegnerische Grundlinie. Er variierte nur manchmal die Ecke und probierte hin
und wieder – das war für ihn das äußerste Risiko – einen klassischen Vorstoß: einen Stopball und danach, wenn der Gegner ans
Netz gerannt war, einen Lop. Wenn Marco Luciani ein spektakulärer Punkt gelang, wie zum Beispiel ein schöner Volley oder Halbvolley,
dann zollte Andrea ihm keine Anerkennung, er jammerte auch nicht, er verzog keine Miene. Er gab sich nur Mühe, noch präziser
zu servieren oder zu returnieren, und in neunzig Prozent der Fälle machte er den nächsten Punkt. Ein anderer seiner Standardsätze
war: »Ein Punkt ist so viel wert wie der andere, wir sind hier nicht beim Turmspringen.«
Marco Luciani ging für sein Leben gern ans Netz oder |138| versuchte mit spektakulären und riskanten Grundlinienschlägen zu punkten. Es war, als ob er auf dem Tennisplatz alle Exaltiertheit
und allen Zauber ausleben wollte, die er sich im normalen Leben versagte. Seit fünf Jahren spielte er jeden Freitag mit Andrea,
und er hatte bisher ganze drei Mal gewonnen. Oft kämpfte er sich bis in den dritten Satz vor, und manchmal war er nur zwei
Punkte vom Sieg entfernt, manchmal hatte er gar einen Matchball, aber dann versaute er prompt einen Schlag, und im Handumdrehen
hatte er die Partie verloren.
Auch heute gewann er den ersten Satz mit 6:3. Er spielte gut und attackierte, sooft er konnte, allerdings überstürzte er nichts,
sondern wartete immer den rechten Augenblick ab. Nun führte er bei eigenem Aufschlag 5:4, dreißig beide. Es fehlten zwei Punkte
zum Sieg. Wenn er von rechts aufschlug, dann ging er normalerweise nie sofort ans Netz. Jetzt überrasche ich ihn, dachte er.
Er brachte einen schönen ersten Aufschlag mit Effet, doch Andreas Return sauste links an ihm vorbei und sprang genau auf die
Linie: 30:40. Wenn Luciani von links aufschlug, ließ er häufig einen Netzangriff folgen, aber jetzt fürchtete er einen weiteren
Passierball. Er wollte mit dem ersten Aufschlag ein As in die Mitte plazieren, doch der Ball ging ins Aus. Der zweite Aufschlag
geriet zu kurz, Andrea konnte so hart returnieren, daß Marco seinen Rückhandball verschlug. Spiel für Andrea, fünf beide.
Luciani mußte wieder bei Null anfangen; mit zwei Bällen hatte er eine historische Chance verspielt. Er haderte wegen dieser
zwei Fehler mit sich, und schon stand es 5:6, dann ging der ganze Satz mit zwei Doppelfehlern verloren. Der dritte Satz begann
katastrophal. Bevor Lucianis Zorn verraucht war, lag er schon 0:3 hinten. Den ersten Schläger zertrümmerte er an der Netzhalterung,
nachdem er einen kinderleichten Volley verschlagen hatte, der ihn auf 2:4 herangebracht hätte. Die Wut versetzte ihm |139| eine satte Adrenalinspritze, und so arbeitete er sich von 1:5 auf 4:5 heran. Dann kam der Moment, wo er einen zweiten Schläger
zu Kleinholz verarbeitete, weil er einen einfachen Smash zum 5:5 verschlagen hatte.
Er kehrte mit leerer Tasche in die Umkleidekabine zurück. Die beiden Schläger lagen im Mülleimer. Beim Zerkleinern des zweiten
hatte er begonnen, mit sich selbst zu reden, und er tat dies auch beim Duschen und Anziehen. Er beschimpfte sich lauthals,
Andrea ließ ihn gewähren und wartete wie immer darauf, daß der Sturm sich legte.
Er duschte sich, verabschiedete sich von seinem Gegner und verabredete sich mit ihm für die kommende Woche. Dann setzte er
sich mit einem Orangensaft und einem Toast an den Tresen des Tennisclubs. Nach ein paar Minuten kam ein langjähriges Mitglied
an, das sein ganzes Leben im Club verbrachte und den Spitznamen »Geometer« trug. Er fragte, ob er sich zu Luciani setzen dürfe.
»Entschuldigen Sie die Störung, Herr Kommissar, ich weiß, es geht mich nichts an, aber ein solches Debakel kann ich nicht
kommentarlos mit ansehen.«
Marco Luciani versuchte das Gespräch abzuwürgen. Er hatte keine Lust, sich jetzt auch noch eine Gardinenpredigt anzuhören.
»Ich weiß, ich bitte Sie und alle, die am Spielfeldrand standen,
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