Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
Jenseits, ihre Gebete, ihr gemurmelter Singsang waren unantastbar. All das hinterließ einen Eindruck in meiner Kinderseele, der möglicherweise noch heute nachwirkt und mich nicht daran zweifeln lässt, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als wir Menschen es uns für gewöhnlich träumen lassen.
Wenn kleine Zicken träumen
S itzt du schon wieder an deinem Fenster«, schimpft die Großmutter. »Du lockst uns noch die Männer von drüben ins Haus!«
Schwupps, schon war es wieder zu. Wie flink sie sich plötzlich doch noch bewegen konnte, die alte Frau. Es war gar nicht so leicht ranzukommen an den Fenstergriff, man musste sich dazu auf die Chaiselongue knien, auf der ich 16 Jahre meines Lebens schlief, und sich dabei sehr weit nach oben strecken.
Aber meine Erziehungsberechtigte war um meinen guten Ruf besorgt, und ein guter Ruf geht in der Türkei über alles. Sie fürchtete, die Nachbarn könnten auf falsche Gedanken kommen, wenn sie mich stundenlang auf der Fensterbank sitzen sahen. Aber was konnte denn ich dafür, dass gegenüber ein Kahwe war, ein beliebter Treffpunkt der Männer. Und ich war ja noch ein Kind. Sie nahmen im Übrigen gar keine Notiz von mir. Auch ich registrierte ihr Treiben nur im Unterbewusstsein, wie sie rauchten und lachten, wie sie Tawlah spielten oder einfach nur herumsaßen und ihr Tespih zwischen den Fingern hin- und herwarfen. Ihre Welt erschien mir fremd und geheimnisvoll, aber eigentlich interessierte sie mich überhaupt nicht.
Dass ich so leidenschaftlich gern am Fenster saß, hatte einen ganz anderen Grund. Hier war der Ort, von dem aus
ich meine kindlichen Sehnsüchte in den Himmel schicken konnte. Das Fenster lag, wie gesagt, direkt über meinem Schlafsofa. Und wenn ich im Liegen hinausschaute, sah ich nur den Himmel, der meistens glänzend blau poliert war. Sobald ich mich allein im Zimmer befand, öffnete ich das Tor zu meinem heimlichen Paradies. Ich schob die Fensterflügel sperrangelweit auseinander und schaute einfach in den Himmel. Es dauerte nicht lange, und ich vergaß die Welt, in die man mich verbannt hatte. Träumte mich hinaus in ein anderes, für mich weitaus interessanteres Leben.
Der überwiegende Gefühlszustand unserer Kindheit war Langeweile. Bevor wir in die Schule kamen, durften wir den Hof unseres kleinen Anwesens nicht allein verlassen, und selbst danach auf Jahre hinaus auch nur, um zur Schule zu gehen. Oma verachtete Radio und Fernsehen, und Zeitungen gab es bei uns schon deshalb nicht, weil sie Analphabetin war. Als Spielzeug hatten wir zunächst nur ein paar Puppen und sonst nichts. Nach und nach kamen dann die Bilder- und Märchenbücher hinzu, die unsere Eltern bei ihren Besuchen aus Deutschland mitbrachten. Zunächst hatten sie offenbar nicht genug Geld für etwas anderes. Es sollte noch einige Jahre dauern, bis sie in der Lage waren, uns großzügiger mit Spielzeug auszustatten.
Eines Tages, so stellte ich es mir in meinen Träumen vor, würde ich für immer von diesem Ort am Ende der Welt weggehen, der einerseits meine eigentliche Heimat war, mir andererseits aber doch so fremd blieb. Ich würde weggehen in ein weit entferntes Land, und nie würde ich zurückkehren. Ganz anders wollte ich werden, anders als die Frauen, die ich hier sah. Ich träumte vom Meer, sah eine
große Stadt und viele Menschen. Ich sah, wie ich mich zwischen all den Fremden leichtfüßig und sicher bewegte. Und ich fühlte mich großartig! Ich glaubte sogar den Wind im Haar zu spüren, wenn ich ein großes silbernes Flugzeug bestieg. Dabei trug ich feine Kleider und funkelnden Schmuck. Auf rauschenden Festen sah ich mich, in Abendkleidern aus glänzenden Stoffen, genau wie die Königinnen und Prinzessinnen aus meinen Märchenbüchern. Oder ich lief wie ein Filmstar über einen roten Teppich und winkte den Zuschauern zu.
Diese inneren Bilder haben meine glanzlose Kindheit erhellt. Im schlimmsten Schlamassel tauchten sie auf, aus der Tiefe meines Unterbewusstseins, wie ein Gruß aus der Vollkommenheit. Etwas in mir glaubte immer fest daran, dass ich eines Tages genauso leben würde. Oder wenigstens so ähnlich …
Leider verrieten es die Nachbarn der Oma oft, wenn ich am offenen Fenster saß. Und wenn sie mich erwischte, holte sie mich dort weg. Als ob sie fürchtete, ich könnte Schaden nehmen.
Aber ich schaffte es schon damals nicht so richtig, ein folgsames Mädchen zu sein. Denn hier gab es ein Problem: Es war mir nicht möglich, durch das Fenster
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