Freitags Tod
noch immer ihre Hand.
»Weiter.«
»Es gibt kein Weiter, Claire. Jetzt nicht mehr.«
Ich hinkte zur Tür, der Schmerz zerrte an meinem Bein. Trotzdem trat ich hinaus. Die Wolkendecke war aufgerissen. Blau und weiß und weit lag das Meer. Ich spürte die Wünsche in meinem Rücken. Kein Weiter also. Erst einmal.
Sophie
Sie ist dicker geworden, denkt Sophie. Das sieht sie schon von Weitem. Sie war nie dick. Das Haar ungewaschen, das Gesicht bleich und aufgedunsen sitzt die Mutter auf einer Bank im Garten. Eine Buche beschattet sie, behütet sie vor den ersten Sonnenstrahlen seit Tagen. Neben Henry im Auto hatte sich Sophie klein gefühlt, Henry, der alles richtig macht, alles kann, auf alles eine Antwort hat. Die Fahrt zu der Villa etwas außerhalb der Stadt, in der die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses untergebracht ist, hatte nicht lange gedauert. Seit der Sache war eine Veränderung mit Henry vor sich gegangen. Jetzt, während er neben ihr hergeht, wirkt er kleiner, irgendwie geschrumpft, seine Gestalt gebeugter, älter, will ihr scheinen. Trotzdem fühlt sie sich nichtig neben ihm, unbedeutend, fast unsichtbar. Manchmal ist es gut, unsichtbar zu sein. Wie Mutter. Wenn auch dicker, kommt sie Sophie noch wesenloser vor. Sophie lässt sich neben ihr auf der Bank nieder, mit Abstand. Henry umarmt die Mutter, holt sich einen Gartenstuhl von einer vereinsamten Sitzgruppe und nimmt darauf Platz.
»Wie geht es dir?«, fragt er und setzt sein ärztliches Lächeln auf. Sophie hasst das. Er arbeitet nicht mehr als Arzt, also braucht er auch dessen Lächeln nicht. Es dauert eine Weile, bis die Mutter den Inhalt des Satzes zu begreifen scheint.
»Gut«, sagt sie und lächelt zurück. »Warst du beim Arzt?«, fragt sie Sophie.
»Ja, Mama, das weißt du doch.« Sophie spürt den Bund ihrer Hose, alles ist zu eng. Zwanzigste Woche, hatte die Gynäkologin gesagt, und dass Sophie wiederkommen solle. Dem Kind gehe es gut. Ob sie wissen wolle, was es werden würde. Nein, hatte Sophie geantwortet und »es wird ein Mädchen« gedacht.
»Wie läuft deine Therapie?«, fragt Henry.
Die Mutter nickt und nestelt am ausgefransten Rand ihres Ärmels.
»Was hast du ihnen erzählt, Mutter?« Immer muss er fragen.
»Alles.« Plötzlich kommt Leben in ihren Blick, ganz kurz.
»Das ist gut«, findet Henry. Sophie ist sich nicht sicher. Sie streicht über ihren Bauch. Zwei Frauen in Jogginganzügen gehen Arm in Arm an ihnen vorüber. Sie sehen normal aus. Steine knirschen unter ihren Schritten.
»Nein. Sie halten mich für verrückt. Ich kriege diese Pillen. Sie machen mich müde.« Schleppende Sätze.
»Ich weiß. Neuroleptika. Bald wirst du sie nicht mehr brauchen. Haben sie erwähnt, wann sie dich entlassen wollen?«
Die Mutter schüttelt den Kopf. »Ich habe Wahnvorstellungen, sagen sie. Aber es sind keine Wahnvorstellungen. Ihr wisst das doch?« Hilfesuchend sieht sie Sophie an. Sie müsste die Hand der Mutter nehmen, aber sie tut es nicht.
»Nein«, sagt sie stattdessen. »Alles ist wahr. Glaube ich.«
In den Nächten zweifelt Sophie daran. Dann hört sie den Vater die Treppe heraufkommen, an ihre Tür klopfen, leise. Aber er kommt nicht rein. Nichts passiert. Sie atmet auf und wartet auf den Kopfschmerz. Seit einiger Zeit kommt auch der nicht mehr. Das ist normal, hatte die Gynäkologin gesagt. Die Migräne hat in der Schwangerschaft Pause. Wie gut das Baby zu ihr ist!
»Immer kommen die Bilder, Henry. Ich habe gedacht, wenn er …«, sie stockt, »nicht mehr ist, hätte ich Ruhe. Es gibt keine Ruhe, nirgends. Von den Bildern sage ich ihnen nichts mehr. Sie haben behauptet, es wären Wahnvorstellungen. Ich will nach Hause. Das Bett ist so hart, und das Essen schmeckt jeden Tag gleich.«
»Du kommst nach Hause, Mutter. Sicher. Bald.«
Eine Weile sieht die Mutter ihren Sohn ungläubig an. »Hast du das nicht, das mit den Bildern?«
»Doch.« Henry starrt am Kopf der Mutter vorbei. Er also auch, denkt Sophie. Der große, starke, tolle Herr Doktor Henry also auch.
»Und was machst du dann?«, fragt die Mutter weiter.
»Nichts. Es sind Erinnerungen, sonst nichts. Es ist vorbei.«
Sophie sieht, dass das nicht stimmt. Sie kennt die Leere im Blick, das Nichts im Kopf, das nur darauf wartet, mit Bildern und Geräuschen und Worten gefüllt zu werden, bis es überquillt und sich mit dem Tag vermischt, die Wirklichkeit auflöst.
»Ich sehe ihn da liegen.« Henrys Lippen bewegen sich wie losgelöst von seinem starren
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