Freiwild
weiterhin ein Halstuch. Es erschien mir einfach sicherer und ich wollte keine nackte Haut zeigen. Wie vor dem Buckinghampalast stand ein Soldat neben meinem Zimmereingang und hielt wie versprochen Wache. Er erschien mir wie ein Bär, mindestens zwei Meter musste er groß sein. Wuchtig stand er da, mit verschränkten Armen. Eine Kampfmaschine auf zwei Beinen. Eine Bewegung oder Geräusch, und er würde sofort alles stoppen, was ihm in den Weg kommen mochte. Sein glatt rasierter Schädel schüchterte zusätzlich ein, aber die Lachfältchen rings um seine Augen milderten den Eindruck. „Ich muss zu Oberst Breitenbacher. Würden Sie mich bitte begleiten?“. Er nickte: „Sehr gerne.“ Dann ging er langsam voraus, damit ich hinter ihm her laufen konnte. Ich fühlte mich sicher hinter ihm. Sein massives, breites Kreuz verschaffte mir eine Art Sichtschutz und ich konnte praktisch unsichtbar den Hof überqueren. Ralf hatte die perfekte Wahl für die Wache getroffen.
Der Oberst wartete bereits auf mich und bat darum, dass ich Platz nahm. Das Büro war vollgestopft mit Papierstapeln, Urkunden hingen an den Wänden, die nicht schon von Aktenordnern und Landkarten besetzt waren. Einige Pokale und eine vertrocknete, schwächliche Zimmerpflanze standen auf dem Fensterbrett. Oberst Breitenbacher schloss die Tür zum Nebenzimmer, in dem ein Soldat an einem Schreibtisch in seiner Arbeit vertieft war. Wir waren unter vier Augen. Ich war angespannt, denn ich hatte keine Ahnung was mich erwarten würde. Bekam ich Ärger, weil ich alleine auf der Rennstrecke gelaufen war? Schickte er mich heim?
„Nun, es wird Sie sicher freuen zu hören, dass Lieutenant Richard vom Dienst suspendiert wurde. Er sitzt bereits im Flieger Richtung Frankreich, wo ihm ein Zivilprozess droht. Er ist also nicht mehr hier.“ Ich atmete auf. Es war meine größte Sorge gewesen, das dieser Kerl hier noch frei rumlaufen könnte. Das Gesicht des Oberst wurde freundlicher: „Wie geht es Ihnen eigentlich? Ich habe mir sagen lassen, dass sich Oberfeldwebel Baumann um Sie kümmert?“. Ich brachte ein gequältes Lächeln zustande: „Es geht so. Der Oberfeldwebel hilft, wo er kann und bemüht sich sehr.“ Meine Hoffnung erfüllte sich, dass der Oberst nicht weiter darauf einging. Ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen Ralf. Er riss sich ein Bein für mich aus und kümmerte sich um mich und ich konnte ihm nur die kalte Schulter zeigen. Oberst Breitenbacher stand auf und reichte mir seine Hand. Als er zugriff, zuckte ich kurz zurück, hatte mich aber gleich wieder unter Kontrolle und schüttelte ihm die Hand. Ein fast nicht sichtbarer Ausdruck des Erkennens huschte über sein Gesicht. Dann sagte er fast väterlich: „Wissen Sie, Frau Hofmann, manchmal ist es das beste, einfach ins kalte Wasser zu springen.“ Er zwinkerte mir zu und hielt mir dann die Tür auf.
„ Schneider!“ Der Oberst schaltete von einer Sekunde auf die nächste zwischen nettem Smalltalk und absolutem Befehlston um. Mein Begleiter sprang auf die Füße und salutierte. „Ich mache Sie persönlich für Frau Hofmann verantwortlich! Wenn ihr was passiert, sind Sie einen Kopf kürzer!“ Obwohl das nicht gerade die formelle Sprachweise war, so machte es doch Eindruck. Schneider stand stramm und würde gehorchen. Er antwortete zackig: „Unteroffizier Schneider passt auf die Lady auf wie auf seinen Augapfel! Melde mich ab!“
Auf dem Weg quer über den Hof kam mir Ralf entgegen. Er freute sich, dass ich unterwegs war und mich nicht in meinem Zimmer eingeschlossen hatte. „Anne! Hey!“, und zu Schneider gewandt: „Du kannst Feierabend machen, Micha. Ich übernehme.“ Mit einem freundschaftlichen Schlag auf die Schulter hängte er noch ein „Dank dir!“ dran.
Ralf wendete sich zu mir, hielt mir den Ellbogen hin und fragte zaghaft: „Magst du? Ich möchte es wenigstens angeboten haben.“ Er legte den Kopf ein wenig schief und grinste mich an. „Ja, gerne“, antwortete ich. Ich nahm mir vor, den Rat des Obersts zu befolgen. Ralf war so sensibel und vorsichtig, was konnte schon weiter passieren, als dass ich angefasst werden würde? Ich sehnte mich so sehr danach, nicht mehr alleine grübeln zu müssen und hatte Ralf mehr vermisst, als ich mir selbst eingestehen wollte.
„ Hast du jetzt Feierabend?“, fragte ich und blickte hoch. Er nickte. „Hast du schon was vor?“ Es klang, trotz aller Bemühungen gleichgültig zu klingen, doch eine Spur zu unsicher aus meinem Mund. Seine
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