Freiwild
würde ich selbst davon auch nichts wissen. Die Wunden auf mir würden heilen. Bei meiner Seele war ich mir nicht so sicher. Ich verdrängte, was geschehen war.
Mittags kam Ralf vorbei, um nach mir zu sehen. Ich war angezogen, gewaschen, frisiert und saß am Computer und spielte Solitaire.
Er war erfreut mich so zu sehen, da er mich heute Morgen noch als Häuflein Elend verlassen hatte. „Hey, du bis ja munter! Wie geht es dir?“. Seine Augen strahlten und ich freute mich darüber, dass er so Anteil an meinem Befinden zeigte. Ich wollte tapfer sein und nicht wieder in Grübeleien versinken, deshalb antwortete ich ihm: „Gut! Danke“, und strahlte ihn an. Ich hatte ein Halstuch umgewickelt, so dass man von den Verletzungen kaum noch etwas sah. „Ich freue mich, dass du da bist!“. Seine Augen weiteten sich in Erstaunen, mich so munter zu sehen. Vermutlich hatte er mit düstereren Gedanken von mir gerechnet. Erleichtert, keine komplizierte, verschreckte Frau vorzufinden, meinte er: „Sag, kann ich was für dich tun? Brauchst du was?“ Ich dachte: Ja, ich brauche dich hier! Ich brauche deine starken Arme die mich festhalten. Ich brauche deinen Schutz! Aber ich sagte es nicht. Dazu hatte ich nicht den Mut. Mein Inneres war viel zu sensibel als auch nur einen ehrlichen Gedanken von mir preiszugeben. Jede Schwäche, die ich zeigen würde, wäre wieder eine Stelle, an der ich verletzt werden konnte. Das hätte ich nicht ertragen. Ich mauerte mich ein, weil ich mir nicht mehr sicher war, ob ich diesem Soldaten vor mir meine empfindliche Seite zeigen wollte.
„ Nein, alles gut.“ Bemüht lächelte ich ihn an: „Hast du schon zu Mittag gegessen?“. „Nein, ich wollte dich eigentlich gerade fragen, was ich dir von der Kantine bringen soll.“ Ich empfand es als so erleichternd, Belangloses mit ihm reden zu können. Alles, was von mir ablenkte, war willkommen. „Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam gehen? Dann könnte ich gucken, was es so gibt?“. Damit lehnte ich mich weit zum Fenster heraus. Hier, in meinem Zimmer, war ein abgeschlossener, sicherer Bereich. Die Welt vor dieser Tür jagte mir Angst ein. Überall fremde Soldaten, die mich sicherlich anstarren würden. Sie würden alle wissen, was mit mir passiert war und mich bedauern oder, schlimmer noch, darauf ansprechen. Aber Ralf war bei mir und ich konnte nicht ewig in diesem düsteren Zimmer sitzen. Ich wollte diese Angst weder zugeben noch zulassen.
Ralf war verblüfft und runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Dann bot er mir seinen Ellbogen zum Einhaken an und fragte fröhlich: „Oder soll ich dich lieber wieder tragen?“. Ich verneinte mit einem gestellten Grinsen im Gesicht. Ich würde es schaffen müssen, mit diesem Erlebnis weiter zu leben, da würde ich es auch schaffen, mit einem verstauchten Knöchel zur Kantine zu hinken. Ich musste, mir blieb nichts anderes übrig. Ich wollte nicht bedauert oder bemitleidet werden und tat stärker, als ich eigentlich war.
Auf halber Strecke bat ich um eine Pause. Obwohl ich mein Gewicht auf Ralfs Ellbogen verlagert hatte, war das Hinken mit dem Fuß anstrengend und ich war immer noch erschöpfter als ich gedacht hatte. Glücklicherweise saßen alle schon beim Essen und der Hof war wie leer gefegt. Ich schnaufte schwer von der Anstrengung. Ralf legte den Arm um mich, damit ich etwas gestützt war. Mit einem Schlag verkrampfte sich alles in mir. „Nein!“, schrie ich laut. „Fass mich nicht an!“. Ich konnte es nicht ertragen. Wie glühende Eisen schnitten sich seine Arme in mein Fleisch und ich schlug seine Hände weg. Kein Soldat sollte mich je wieder anfassen. An Ralf sah ich nur noch seine Uniform. Den empfindsamen Mann darunter nahm ich nicht wahr. „Anne...“ Ralf war erschüttert. Mit einem solchen Gefühlsausbruch hatte er nicht rechnen können. Schnell hob er seine Hände und ging einen Schritt zurück um zu demonstrieren, dass er ungefährlich war. „Entschuldigung, das wollte ich nicht.“ Betroffen stand er da, ließ die Schultern hängen und sah mich sorgenvoll an. Bei meinem schönen, selbst gemauerten Panzer für meine Seele war der Putz noch nicht trocken und die Mauer stürzte ein. Ich fing an zu schluchzen. Es tat mir so leid. Er war doch da, um mir zu helfen. Stattdessen hatte ich ihn angeschrien. Ich schämte mich. Er hatte es doch nur gut gemeint und nicht wissen können, wie ich auf eine Berührung reagieren würde.
Einige Soldaten kamen aus der Kantine angelaufen, um nach
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