Fremd küssen. Roman
ganz normal zu finden, offensichtlich sind sie schon länger dabei.
»Nun!«, brüllt Chantal Döppler los. »Ich hoffe, ihr alle hattet eine angenehme, positive Woche! Ich freue mich, ein neues Mitglied in unserer Runde begrüßen zu können! Stehe auf und komme nach vorn!«
Meint sie mich? Ich bleibe vor Entsetzen gelähmt sitzen. 24 Köpfe drehen sich nach mir um und blicken mich mit ernsten Gesichtern an. Ich habe das Gefühl, dass mein Schließmuskel gleich versagt.
»Hallo!«, schreit es. »Ja, dich meine ich, in der letzten Reihe! Nicht so schüchtern!!!«
Langsam erhebe ich mich von meinem Platz und wanke zwischen den Tischreihen nach vorne. Ich habe es schon immer gehasst, vor vielen Leuten zu stehen und womöglich noch etwas sagen zu müssen. Chantal Döppler blickt auf einen Notizzettel. Dann steht sie auf und springt auf den Boden, um wie ein Irrwisch um mich herumzutanzen. Hätte sie eine verschiedenfarbige Mütze mit Glöckchen auf, würde man annehmen, sich im 16 . Jahrhundert auf einem Schloss zu befinden, um soeben die Bekanntschaft des Hofnarren zu machen. »Mmmmmh, mmmmmh … «, fängt sie an zu trällern. Dabei schwingt sie ihre Arme wie ein Dirigent auf und ab. Plötzlich stehen alle im Raum auf und holen Luft.
»Willkommen, willkommen, du Noheue hier, willkommen, willkommen, was willst du denn hier? Wir wollen’s von dir wi-hissen und keine Info mihissen, willkommen, willkommen du No-heue du!«, singt alles im Chor. Ich bekomme keine Luft mehr. Auf was habe ich mich hier nur eingelassen? Innerlich verfluche ich Zoe.
Nachdem das Willkommenslied beendet ist, klatschen alle Anwesenden, daraufhin setzen sie sich wieder und schweigen mich an. Offenbar soll ich jetzt irgendetwas sagen.
»Guten Abend«, krächze ich verzweifelt. Warum versagen in solchen Momenten immer meine Stimmbänder? Frau Döppler nimmt Anlauf und springt auf ihren Tisch zurück. Sie blickt auf die Kursteilnehmer und dann auf mich.
»Nun!«, sagt sie. »Wir warten auf Ihre Vorstellung, meine Beste!« »Okay«, sage ich. »Mein Name ist Carolin und ich bin … «
»Ein Menschenkind, das ausgenutzt wird und ständig Angst hat zu versagen!«, fällt Frau Döppler mir kreischend ins Wort. »Ein Kind, das vor Verzweiflung und Frust zu Übergewicht neigt, weil es nachts heimlich an den Kühlschrank geht, um sich dort sieben Schokopuddings rauszuholen! Ein Mensch, der an den Fingernägeln knabbert, weil er sonst nicht weiß, wie er seine Aggressionen abbauen kann! Eine Frau, die heimlich davon träumt, andere Menschen umzubringen, wenn es ihr nicht bald besser geht. Eine Frau, die wahrscheinlich schon oft gestohlen hat und auch zur Brandstiftung neigt, nur um Aufmerksamkeit zu erregen!« Was redet diese Frau da? Ich habe noch nie das Bedürfnis verspürt, Feuer zu legen, geschweige denn, jemanden zu töten. Chantal Döppler redet sich in Rage. »Ooooh ja, solche wie dich kennen wir. Tun auf frustriert und keiner hat mich lieb, aber in Wirklichkeit habt ihr es faustdick hinter den Ohren! Nun – was willst du von mir, was???«
Ich bin überfordert mit der Situation. Ich kann auch nicht mehr sprechen. Mein Mund ist so trocken, dass ich nicht mal mehr schlucken kann. Verzweifelt versuche ich, an eine Sahnetorte zu denken, in der Hoffnung, dass mir der Gedanke daran das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so hilflos gefühlt.
Chantal läuft derweil zur Hochform auf. Sie deutet mit ihrem viel zu kurzen Zeigefinger auf mich und behauptet die unglaublichsten Dinge. Unter anderem brüllt sie, ich wäre als Kind zu heiß gebadet worden und hätte demzufolge Komplexe, mich im Badeanzug im Schwimmbad zu zeigen. Als Nächstes kommt die Behauptung, ich sei sicherlich von meinen Eltern nicht beachtet worden und hätte deswegen angefangen, mit mir selbst zu reden. Ganz bestimmt sei ich an Banküberfällen beteiligt gewesen und hätte schon Menschen getötet, nur um mich wichtig zu machen, und deswegen sei ich hier.
Ich versuche zu reagieren. »Ich habe niemanden getötet!«, bringe ich heraus.
»Aber versucht! Aber versucht!«, antwortet mir Chantal Döppler unnachgiebig. »Wir alle haben zwei Seelen in unserer Brust! Und diese zwei Seelen lassen uns zwei Menschen werden. Die eine Seele ist lieb und nett, die andere Seele dürstet nach Vergeltung. Nach Vergeltung! Hast du Zimmerpflanzen?«
Ich habe Zimmerpflanzen. »Ich habe Zimmerpflanzen … «, bringe ich hervor.
»Und?«, kreischt Chantal.
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