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Fremde

Fremde

Titel: Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gardner R. Dozois
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zugenagelt, aber nicht allzu fest. Abrupt beschloß er, es zu riskieren. Er grub die Finger unter den Deckel und fand Halt. Dann holte er tief Luft, hielt fest und schien wie eine Kröte anzuschwellen. Seine riesigen Hände verspannten sich, das Handgelenk bog sich, die Schultern zogen sich zusammen – man hörte das knackende Geräusch von splitterndem Holz, und der Deckel flog auf. Er schwankte über der Kiste und rang nach Luft. Die beiden hellsten Monde waren aufgegangen, schwangen wie Meteore über den Himmel, warfen ein dämmriges, milchiges Licht über die abendliche Schneelandschaft, aber man konnte immer noch nicht gut sehen, und die sich bewegenden Doppelschatten verursachten ein zusätzliches Problem. Farber kniff die Augen zusammen, griff zögernd in den Kasten und wühlte darin herum. Seine Hände trafen auf etwas Glattes und Hartes – es rollte unter seiner Berührung fort. Wieder griff er danach, faßte es und hob es rasch aus der Kiste ans Licht.
    Es war ein Schädel.
    Farber knurrte, als habe man ihn in den Magen geschlagen und ließ ihn fallen. Der Schädel fiel mit einem knochigen Tschunk in den Schnee, drehte sich herum und rollte langsam in die Schatten. Die Welt pulsierte, und die Zeit blieb stehen – Farber war wie erstarrt. Die Finger hielt er noch so ausgestreckt, wie er den Schädel fallen lassen hatte, während eine Dekade verstrich, ein Jahrhundert, ein Jahrtausend – dann ein Pulsund die Zeit begann wieder, die Welt kippte und wirbelte um seinen Kopf, als er seinen Körper zurückzerrte, so daß er schwer auf den Fersen saß und die Hand krampfhaft schüttelte, als habe er etwas Heißes berührt. Er schlug die Augen zu und öffnete sie wieder. Der Krampf ging vorbei, und die Welt drehte sich nicht mehr. Er fuhr sich mit der Hand an die Kehle und ließ sie wieder sinken. »Nein«, sagte er mit lauter, tonloser, fast sachlicher Stimme. Er merkte, daß er unfreiwillig grinste, freudlos, ein Grinsen des Grauens. Zugleich sagte ein abgelegener Teil in ihm: Du wußtest, was es sein würde, leidenschaftslos, furchtlos und ganz und gar nicht überrascht.
    Er zwinkerte. Dann griff er grimmig noch einmal in die Kiste. Brüchige tote Gegenstände, rasselnde, rollende Dinge, die unter seinen Fingerspitzen klapperten. Kalte, unangenehme Oberfläche. Wie Porzellan, dachte er unsinnigerweise. Knochen. Rippen, Wirbel, Finger, Schenkel, eine Hüfte.
    Er kroch zur nächsten Kiste hinüber – kroch auf Händen und Füßen, ohne sich aufrichten zu wollen, wie ein Krebs – und zerrte sie auf, achtete nicht auf die Geräusche, schlug mit der Handfläche wütend und heftig darauf, als ein Nagel steckenblieb, hob den Deckel mit traumartiger Langsamkeit hoch, als sei er ein Schmetterling, und riß dann mit einem plötzlichen Ruck das Ende heraus. Unter seinem Fingernagel saß nun ein langer, schmerzhafter Splitter, aber er ignorierte ihn. Rücksichtslos griff er in die Kiste und schaufelte eine Handvoll des Inhalts heraus. Ja, Knochen. Und noch mehr Knochen. Er erstarrte wieder, das Gesicht zum Himmel gewandt, kauerte grotesk mit einem Armvoll brüchiger weißer Knochen am Boden, wie ein Gespenst, das man beim Holzsammeln erwischt hat. In ihm befand sich ein sonderbares, gefährliches Vakuum, das darauf wartete, durch Panik und Entsetzen gefüllt zu werden, die längst da sein mußten, von ihm nur noch durch eine dünne Glasschicht getrennt. Ruhig und geduldig kauerte er dort in der Dunkelheit und wartete darauf, daß das Glas zerbrach.
    Hinter ihm ertönte von der Tür her ein lautes, quietschendes Geräusch.
    Das Glas zerbrach. Das Vakuum füllte sich. Noch ehe das Licht aus der Tür die geräumte Fläche überfluten konnte, war Farber fort, ließ die Knochen fallen und sprang mit einem einzigen, riesigen Satz fort wie eine aufgescheuchte Katze. Drei Schritte brachten ihn zum Rand der Fläche, dann den eisigen Hang hinaufkriechend, wühlend mit Händen, Füßen, Fingernägeln, Knien, Ellenbogen. Und er rannte und stolperte durch die Schneewehen, kämpfte sich seinen Weg vorwärts, taumelte, fiel, durchpflügte den Schnee, schwamm fast durch den Schnee. Wieder hoch. Ein rauher Schrei hinter ihm, und er rannte schneller, zog die Knie bei jedem Schritt so hoch hinauf wie möglich, um aus dem Schnee zu kommen. Dann stieß sein Fuß in Luft. Er fiel aus den Schneeverwehungen auf die Straße, traf schmerzhaft auf, rollte herum und kam zum Laufen wieder hoch. Glücklicherweise war sein Gesicht nach Süden

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