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Fremde

Fremde

Titel: Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gardner R. Dozois
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erstaunt, zögernd, sagte er das. »Du meinst, du weißt es?« Er starrte sie hilflos an. Dann stieg etwas anderes in seiner Miene auf. »Mein Gott! Oh, mein Gott! Du hast es die ganze Zeit über gewußt!«
    Sie sagte: »Josef, bitte.« Und er sagte gleichzeitig: »Du hast es mir nicht gesagt!«
    Sie starrten einander wild an, wie bei einem Streit.
    »Josef …«
    »Warum hast du es mir nicht gesagt?«
    Absolut erstaunt, unter aufsteigenden Tränen, meinte sie: »Aber das habe ich doch. Ich habe …«
    Und das ließ ihn erstarren. Vielleicht hatte sie es ihm gesagt. Wenn sie philosophisch sprach, verstand er nur selten etwas. Es war so leicht, sich in dem Gewirr von Allegorien und Indirektheiten zu verlieren, zu vieles war vage und wurde nur vorsichtig angedeutet. Vielleicht hatte sie es gesagt. Aber … In seiner Aufregung war er wieder aufgestanden. Jetzt verließ ihn die Kraft, und er griff blindlings nach einem Stuhl. Er konnte ihn nicht finden. Er stand benommen da, machte pathetische, suchende Handbewegungen. Sein Mund bewegte sich schwach, ohne einen Laut.
    Zum ersten Mal weinte Liraun offen.
    »Aber …« sagte er und sah sie verdutzt an, als sei er ein Schuljunge und sie das Problem, das zu lösen war. »Wenn du es wußtest … wie wirst du damit fertig … du läßt sie … Aber du mußt wahnsinnig sein.« Er zitterte, und all seine Abwehr wurde durch Entsetzen hinweggespült. »Du mußt wahnsinnig sein! Lieber Gott. Jesus!«
    Verzweifelt: »Nein, es ist nicht so, daß ich sie ›lasse‹. Nicht so, Josef!«
    Aber er hörte nicht hin. Er starrte sie vollständig fasziniert an. Er hatte sie seit Monaten jeden Tag und jede Nacht gesehen, aber niemals wirklich. Niemals. Sie war für ihn eine Fremde. Er hatte sie niemals gekannt.
    »Heute nacht müssen wir uns an die gemeinsame Zeit erinnern, die wir hatten, und uns darüber freuen«, sagte die Fremde.
    Er wich vor ihr zurück.
    »Bitte, es ist die letzte Nacht, die wir haben«, meinte die Fremde.
    Er wandte sich ab.
    »Josef!« rief die Fremde.
    Blind und taub rannte er fort.
     
    Stolpern, Kriechen, nasser Wind, kalter Felsen, dunkler Boden. Er taumelte hinab in die Neustadt.

 
18
     
    Es war die Nacht des Herannahenden Frühlings, und die Straßen der Neustadt waren lichtüberflutet. Das Licht schimmerte aus dämonischen Masken, glitzerte auf juwelenbesetzten Kostümen und ließ Haut und Stoff und Schatten sonderbar zusammenfließen. Jemand hatte auf dem Töpferplatz ein Freudenfeuer entzündet, und die Flammen fraßen Löcher in den Himmel. Der Lärm war ohrenbetäubend. Die Kachelstraßen und -plätze und -gäßchen waren voller torkelnder, taumelnder Halbgötter. Sie umklammerten Farber, versuchten, ihn zum Bleiben und Mitfeiern zu bewegen, aber er riß sich grob von ihnen los. Er benutzte Knie und Ellenbogen, sich seinen Weg durch die Menge zu bahnen wie ein Tintentröpfchen durch einen dicken, prächtigen Gobelin. Die Luft roch nach Ingwer, Harz, Moschus. Ein Dämon mit gehörnter, hölzerner Maske bot ihm eine halbleere Weinflasche an. Er schlug sie beiseite.
    Walpurgisnacht, war sein einziger Gedanke.
    Als er ein Wirtshaus gefunden hatte, zeichnete Feuerwerk leuchtende Pastellnovas hinter die steilen Schieferdächer. Drinnen war es staubig, dunkel und fast leer. Die Leute drinnen hingen ihren eigenen Gedanken nach und beachteten ihn nicht. Er kaufte eine Flasche von dem starken einheimischen Schnaps von dem Wirt und nahm sie in eine Ecke des Gastraumes mit.
    Er widmete sich der Flasche wohl eine Stunde lang, starrte dabei auf den zerkratzten Tisch, war sich der verstrichenen Zeit nicht bewußt.
    Als er wieder aufblickte, saß Tamarane an seinem Tisch.
    Er blinzelte sie erstaunt an. Er hatte sie nicht hereinkommen hören, dessen war er sicher – sie war einfach dort aufgetaucht, wie Rauch, wie ein Geist mit gebrochenem Gesicht.
    »Meine Freunde haben mir gesagt, du seist hier, Erdenmensch«, sagte Tamarane. »Ich wollte mir ansehen, wie du bist.«
    »Und wie bin ich?« fragte er bitter.
    »Ich weiß es nicht … sonderbar. Jemand, der Lirauns Tod nicht wert ist, soviel weiß ich zumindest.«
    Farber errötete. »Sieh mal …«
    »Sie war unsere Beste, weißt du«, sagte Tamarane und ignorierte ihn. »Ich habe ihr das nie gesagt. So eng waren wir nie befreundet, aber sie war unsere Beste. Und nun ist es zu spät, es ihr zu sagen. Jetzt ist sie tot.«
    »Gottverdammte Hexe! Sie ist noch nicht tot.«
    »Doch, das ist sie«, gab Tamarane ruhig zurück.

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