Fremde am Meer
subtil veränderten. Nie dasselbe und doch immer dasselbe. Schon vor Bekanntwerden des Treibhauseffekts und des Schmelzens der Polarkappen waren die Dünen ein bewegliches, unsicheres Fundament für ein Haus gewesen. Oft schluckten Oktoberstürme große Brocken von ihnen und spülten sie hinaus ins Meer. Mich störte diese Unsicherheit nicht. Diese Bedrohtheit meiner Existenz. Jenes unterschwellige Wissen um die langsam steigende Flut, die mein Haus eines Tages forttragen, oder die gigantische Woge, die es mit einem Donnerschlag mit sich reißen würde. Dieses Szenario gefiel mir sogar noch besser. Und ich würde mich ergeben. Ich hatte mir eingeredet, dafür bereit zu sein.
Aber bis zu diesem Tag wollte ich an Ort und Stelle bleiben. Ich ging jeden Morgen am Strand spazieren. Als ich zurückgekehrt war, um mich hier niederzulassen, hatte ich mit diesen Spaziergängen angefangen, um meinem Leben irgendwie Form und Struktur zu geben. Als etwas, an dem ich mich festhalten konnte. Doch aus den ersten zögerlichen, eher pflichtbewussten Anfängen war irgendwann eine feste Gewohnheit geworden, fast Teil meiner Arbeit, wenn man es überhaupt so nennen konnte, denn auf diesen Wanderungen sammelte ich mein Material. Treibholz. Steine und Muscheln. Nüsse und Samen. Federn und Knochen. Alles blank poliert vom Meer und weich in meinen Händen, jedes Stück auf seine Weise. Das Sammeln diente zunächst keinem bestimmten Zweck. Ich ließ einfach meinen Blick schweifen, bis er irgendwo hängen blieb, auf einem Stück Holz etwa, das von der Gischt am Rande der zurückweichenden Brandung angespült wurde, bückte mich und hob es auf. Behielt es in der Hand, während ich weiterlief. Es konnte auch ein Stein sein, stets viel farbenprächtiger, wenn er im nassen Sand lag, als später, wenn er trocken war, der sich aber immer weich anfühlte. Besänftigend. Dann hatte ich begonnen, einen Korb mitzunehmen, und im Laufe der Zeit war das Sammeln zielstrebig geworden. Natürlich hatte es das Wesen meiner Spaziergänge verändert. Es waren eigentlich keine Spaziergänge mehr, sondern Expeditionen. Beutezüge, die viel von meiner Zeit und meinen Gedanken beanspruchten.
Sie nannten mich »die Künstlerin«. Oder »die Ärztin«. Oder einfach »sie« oder »diese Ausländerin«, um deutlich zu machen, dass ich irgendwie nicht zu ihnen gehörte. Für sie hatte ich keinen Namen, nur eine Bezeichnung. Trotzdem waren die Leute freundlich. Mehr oder weniger unvoreingenommen, vielleicht auch bloß gleichgültig. Bis zu einem gewissen Grad konnte man hier einfach sein, was man wollte. Es war, als zöge dieser Ort einen bestimmten Typ Menschen an. Großzügige und aufgeschlossene. Selbstverständlich waren nicht alle so; es gab auch andere. Wie überall. Solche, die lieber nahmen als gaben. Aber im Großen und Ganzen waren die Menschen hier anständig und von Natur aus geneigt, andere in Ruhe zu lassen.
Ich hatte darüber nachgedacht, über das Geben und Nehmen, und war zu der Ansicht gelangt, dass es zwei Sorten Menschen gibt: diejenigen, die produzieren und kreieren, und die, die von der Arbeit anderer leben. Nicht nur in materieller Hinsicht und nicht nur hier, in meinem Umfeld. Hier, wie gesagt, vielleicht weniger als anderswo. Nein, generell und überall. Ich war mir nicht einmal sicher, ob die eine Sorte besser ist als die andere. Womöglich werden beide gleichermaßen gebraucht. Aber seltsamerweise kam es mir vor, als hätten letztere – die Nehmer – irgendwie die Oberhand gewonnen. Es schien inzwischen lohnender zu sein, die Ergebnisse der Arbeit anderer zu verwalten, als sich selbst schöpferisch zu betätigen. Sicher war es nicht immer so gewesen. Ich fragte mich, wann sich das Gleichgewicht verschoben hatte und ob es wieder hergestellt werden würde.
Da war ich also, mit den Füßen im Sand, und versuchte, mir albernerweise einzureden, dass ich eine Außenstehende war oder vielleicht sogar über den Dingen stand. Dass die Welt keinen Einfluss auf mich und mein Leben hatte. Dabei war es unmöglich, sich ihrer Realität zu entziehen. Schon durch meine bloße physische Präsenz war ich ein Teil von ihr. Auch dieser entlegene Ort hier war mit mir durch Gegebenheiten verbunden, auf die ich nicht einwirken konnte. Selbst wenn ich den Rest der Welt komplett ignorierte, war er doch vorhanden und würde mich und meine Umgebung unabhängig von dem, was ich tat oder dachte, immer beeinflussen.
Hinter dem Haus war mein kleiner Garten.
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