Fremde am Meer
lebte. Er war einfach nicht fähig, sich totzustellen, falls es das war, was er wollte. Also blieb ich einfach stehen und wartete.
In dieser Haltung kann er nicht ewig liegen bleiben, dachte ich.
Ich unterschätzte seine Ausdauer. Noch mehr aber unterschätzte er meine Geduld. Ich war bereit zu warten, solange es eben dauern würde. Also lag er da, und ich stand über ihm. Ich schaute in den Himmel und fragte, ob er hungrig sei. Keine Antwort. Die Möwen übertönten das Donnern der Wogen mit ihrem Geschrei. Die Flut lief ab, und jede Welle machte ein bisschen weiter entfernt von seinen Zehenspitzen Halt.
»Hast du Hunger?«, fragte ich seinen starren Rücken erneut. Wieder keine Reaktion. Er regte sich nicht. Das einzige Lebenszeichen war die rhythmische Bewegung seines Brustkorbs, der sich mit jedem Atemzug weitete und zusammenzog.
Wir warteten.
Irgendwann drehte er sich langsam um. Sein Gesicht war mit Sand bedeckt, und er hielt die Augen geschlossen. Ich stand da und blickte auf ihn hinab. Ich war mir sicher, dass ich ihn noch nie gesehen hatte. Auch nicht in der Klinik, was merkwürdig war. Wenn er in der Nähe lebte, wäre ich ihm vermutlich irgendwann begegnet. Dann sprang er ohne ein Wort auf und rannte ins Wasser. Als er zurückkehrte, war der Sand abgespült, und seine Shorts und das T-Shirt klebten ihm am Körper. Er war jämmerlich dünn. Mir fiel auf, dass er nicht viele Zähne zu haben schien und dass die, die er hatte, noch seine Milchzähne waren.
»Hast du Hunger?«, fragte ich noch einmal.
Er schaute mich nicht an, sagte nichts, grub nur, halb abgewandt von mir, seine Zehen in den Sand. Ich drehte mich um und begann, mich von ihm zu entfernen, spürte jedoch, dass er mir folgte. Er machte kleine Umwege, um einen Stein aufzuheben und ins Meer zu werfen, um einen Vogel zu jagen. Wenn ich langsamer ging, passte er sich meinem Tempo an. Wenn ich stehen blieb, tat er dasselbe. Wenn ich wieder loslief, kam er mir nach. Schlängelte sich entlang der Dünen hinter mir her.
Es war ein Donnerstag, der erste von vielen.
Ich konnte nie sicher sein, dass er kommen würde, doch an den meisten Donnerstagen tauchte er auf. Er erklärte sein Nichterscheinen nie, und ich fragte nicht. An anderen Wochentagen besuchte er mich nie.
Obwohl er nicht viel sprach, erhielt ich wichtige Informationen von ihm. Für jemanden wie mich waren schon die winzigsten Bruchstücke über das, was außerhalb meiner Sphäre geschah, wertvoll. Ich kam mir selbst oft naiv vor. Es hatte immer Dinge gegeben, die für die meisten Leute anscheinend normal und natürlich waren, die ich jedoch nicht verstand. Andererseits merkte ich häufig, dass mir Dinge vertraut waren, die andere seltsam fanden. Vielleicht war »naiv« nicht das richtige Wort, aber mir fiel kein besseres ein.
Außerdem war der Junge ein regelrechter Quell der Weisheit. Ich befürchtete, dass er diese Eigenschaft einbüßen, ihr entwachsen würde, obwohl ich das Gegenteil hoffte. Er war ein außergewöhnlicher Mensch. Vorurteilslos. Neugierig. Manchmal witzig, wenn ich auch nie wusste, ob mit Absicht. Ich wollte nicht, dass er sich veränderte, aber ich wusste, wie unwahrscheinlich das war. Die Zeit würde ihn seiner Qualitäten berauben, oder das Leben würde ihn lehren, sie zu verstecken. Ich hatte ihn sehr gern. Und ich wartete Woche für Woche. Jeden Donnerstag. Er würde sich unweigerlich verändern. Und ich würde ihn unweigerlich irgendwann verlieren.
Törichterweise glaubte ich, ich könne mich darauf vorbereiten.
Es war ein heller Tag mit wenig Wind, so winterlich, wie es hier eben wird, nicht sehr kalt nach meinen Maßstäben. Nicht an der Temperatur merkte man, dass es Winter war, sondern am Licht, jenem eigentümlichen weißen Westküstenwinterlicht. Es sah aus, als wäre aus allem die Farbe gesogen: aus dem Himmel, dem Meer, der Vegetation. Sogar aus mir. Ich wanderte zurück, setzte mich auf die Türstufe und richtete meinen Blick auf die See. Die Schnur mit den Paua-Muscheln wehte im Wind und klapperte ab und zu gegen die Holzschindeln. So früh war üblicherweise noch nichts von Ika zu sehen. Und die Suppe würde noch ein Weilchen brauchen. Auch nach beinahe einem Jahr wusste ich nicht, welche er am liebsten mochte. Er kommentierte nie, was ich ihm servierte, sondern aß alles mit demselben Eifer. Donnerstags machte ich auch Brot. Ich bereitete den Teig morgens vor, ehe ich aufbrach, und backte ihn dann nach meiner Rückkehr. Das hatte sich zur
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