Fremde Blicke
Tüte.«
»Kannst du sehen, was das für ein Zeug ist?«
»Das kann alles mögliche sein. Aber die kleinsten Tabletten sind oft die stärksten. Das Labor wird das schon feststellen.«
Sejer nickte den Männern mit der Bahre zu und beobachtete sie bei ihrer Arbeit. Dann hob er zum erstenmal seit langem wieder den Blick und schaute nach oben. Der Himmel war bleich, die spitzen Tannen umgaben den Weiher wie erhobene Lanzen. Sie würden das in der Tat feststellen. Das schwor er sich. Alles, was passiert war.
Jacob Skarre, geboren und aufgewachsen in S0gne an der idyllischen Südküste, war gerade fünfundzwanzig. Er hatte schon oft nackte Frauen gesehen, wenn auch noch nie so eine wie diese hier am Weiher. Der Gedanke kam ihm, als er neben Sejer im Wagen saß, daß diese auf ihn vielleicht einen tieferen Eindruck machte als alle anderen Toten, die er je gesehen hatte. Vielleicht weil sie so lag, als wolle sie ihre Nacktheit verstecken, mit dem Rücken zum Weg, mit gesenktem Kopf und angezogenen Knien. Aber sie hatten sie doch gefunden und ihre Nacktheit gesehen. Sie hatten sie gedreht und gewendet, hatten ihre Lippen weggedrückt und ihre Zähne untersucht, hatten ihre Augenlider hochgeschoben. Hatten ihre Temperatur gemessen, während sie mit gespreizten Beinen auf dem Boden lag. Wie bei einer Stute auf einer Auktion.
»Sie war doch eigentlich ziemlich hübsch, oder?« fragte er erschüttert.
Sejer gab keine Antwort. Aber er freute sich über diese Bemerkung. Er hatte schon andere Frauen gefunden und ganz andere Kommentare gehört. Sie fuhren eine Weile schweigend weiter und starrten auf die Straße vor ihnen, in einer unbestimmten Ferne jedoch sahen sie die ganze Zeit diesen nackten Leib. Das Rückgrat, die Fußsohlen mit der etwas rötlicheren Haut, die Waden mit den hellen Härchen, das alles schwebte wie eine Luftspiegelung über dem Asphalt. Sejer hatte ein seltsames Gefühl. Dieser Fall war anders als alle vorherigen.
»Hast du Nachtschicht?«
Skarre räusperte sich. »Nur bis Mitternacht. Ich bin ein paar Stunden für Ringstad eingesprungen. Aber du wolltest doch eine Woche Urlaub nehmen, fällt der jetzt ins Wasser?«
»Sieht so aus.«
In Wahrheit hatte er diesen Plan schon vergessen.
Vor ihm auf dem Tisch lag die Vermißtenliste.
Darauf standen nur vier Namen, und zwei davon waren Männernamen. Die beiden Frauen waren vor 1960 geboren und konnten unmöglich die Tote am Schlangenweiher sein. Die eine war aus der Psychiatrischen Abteilung des Zentralkrankenhauses verschwunden, die andere aus dem Altersheim der Nachbargemeinde. »1,55 groß, 45 Kilo, schneeweiße Haare.«
Es war sechs Uhr nachmittags, und es konnten noch Stunden vergehen, bis irgendein ängstliches Gemüt sie endlich vermißt melden würde. Sie mußten auf die Bilder und den Obduktionsbericht warten, und deshalb konnte er nicht viel tun. Sie brauchten erst die Identität der Frau. Er nahm seine Lederjacke vom Stuhlrücken und fuhr mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoß hinunter. Machte eine elegante Verbeugung vor Frau Brenningen in der Rezeption und dachte daran, daß sie Witwe und ihr Leben seinem eigenen vielleicht ziemlich ähnlich war. Hübsch war sie auch, blond wie Elise, aber rundlicher. Er ging über den Parkplatz zu seinem Privatwagen, einem alten eisblauen Peugeot 604. In Gedanken sah er das Gesicht der Toten vor sich, gesund und rund und ungeschminkt. Die Kleider waren solide und modisch, die glatten hellen Haare gepflegt, die Turnschuhe teuer. Am Handgelenk hatte sie eine teure Sportuhr von Seiko getragen. Es war eine Frau aus gutem Haus, aus einer Familie mit Ordnung und Struktur. Er hatte andere Frauen gefunden, bei denen ein ganz anderer Lebensstil seine deutliche Sprache gesprochen hatte. Und doch war er manches Mal überrascht worden. Zum Beispiel wußten sie noch nicht, ob diese Tote sich mit Alkohol oder Rauschgift oder irgendeinem anderen Teufelszeug vollgepumpt hatte. Möglich war alles, und oft trog der erste Eindruck. Er fuhr langsam durch die Stadt, vorbei am Marktplatz und der Feuerwache. Skarre hatte versprochen anzurufen, sowie die Vermißtenmeldung eingelaufen war. Auf dem Medaillon standen die Buchstaben H. M. Sejer überlegte, Helene vielleicht oder Hilde. Er glaubte nicht, daß sie lange auf den Anruf würden warten müssen. Das war eine Frau, die ihre Verabredungen einhielt, die ihr Leben im Griff hatte.
Als er den Schlüssel ins Schloß steckte, hörte er den dumpfen Lärm, mit dem der Hund seinen
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