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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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Telefon hinüber und wartete vergeblich.

DIE WACHE WAR EINE rund um die Uhr geöffnete Institution, zuständig für fünf Gemeinden, in denen einhundertfünfzehntausend gute und böse Bürger lebten. Im gesamten Gerichtsgebäude arbeiteten mehr als zweihundert Menschen, einhundertfünfzig davon gehörten zur Wache. Zweiunddreißig von ihnen waren Ermittler, aber da immer wieder irgendwer beurlaubt war oder auf Weisung des Justizministeriums Kurse oder Seminare besuchen mußte, standen nie mehr als zwanzig Personen für die tägliche Arbeit zur Verfügung. Das war zu wenig. Holthemann behauptete, die Öffentlichkeit stehe für sie nicht mehr im Mittelpunkt, sondern sei fast vollständig aus ihrem Blickfeld verschwunden.
    Kleinere Fälle wurden von einsamen Ermittlern bearbeitet, schwierigere von Gruppen. Insgesamt hatten sie es pro Jahr mit vierzehn- bis fünfzehntausend Fällen zu tun. Tagsüber konnte ihre Arbeit in der Behandlung von Gesuchen bestehen; die einen wollten auf dem Markt einen Stand aufbauen, um Blumen oder Figuren aus Salzteig zu verkaufen, die anderen wollten gegen irgend etwas demonstrieren, gegen den neuen Tunnel vielleicht. Die Protokolle der automatischen Verkehrskontrollen mußten durchgesehen werden. Wutschnaubende Bürger kamen angestürzt und wurden mit entlarvenden Fotos konfrontiert, auf denen sie geschlossene Linien überquerten oder bei Rot weiterfuhren. Sie saßen zornbebend im Wartezimmer, täglich dreißig bis vierzig solche Leute, denen die Brieftasche in der Westentasche zitterte. Der Verkehrslernbus mußte besetzt werden, und schändlicherweise rissen die Beamten sich durchaus nicht um diese wichtige Aufgabe. Festgenommene sollten zum Untersuchungsrichter und mußten gebracht und abgeholt werden, die Kollegen brachten Anträge auf Beurlaubung oder freie Tage, die behandelt werden mußten, und schließlich gab es jeden Tag endlose Besprechungen. Im dritten Stock hauste die Gerichts- und Anklageabteilung, deren fünf Juristen mit der Polizei ausgezeichnet zusammenarbeiteten. Im vierten und fünften Stock lag das Kreisgefängnis. Der Hofgang fand auf dem Dach statt, von wo aus die Häftlinge einen Blick auf den Himmel werfen konnten.
    Die Kriminalstation war das Gesicht, das die Wache der Welt zukehrte, was hohe Ansprüche an Anpassungsvermögen und Geduld des jeweiligen Wachhabenden stellte. Die Bürger der
    Stadt hingen rund um die Uhr an der Strippe, ein praktisch nie versiegender Strom von Anliegen:    gestohlene    Fahrräder,
    entlaufene Hunde, Einbrüche und Schikanen. Wütende Väter aus den besseren Wohnvierteln klagten über Verkehrsrowdies in der Nachbarschaft. Ein seltenes Mal war nur eine schluchzende Stimme zu hören, jämmerliche Versuche, Mißhandlungen oder Vergewaltigungen zu melden, die in Verzweiflung ertranken und nur einen Summton in der Leitung hinterließen. Noch seltener hatte jemand einen Mord oder ein Verschwinden zu melden. In diesem Strom wartete Skarre. Er wußte, daß der Anruf kommen würde, er spürte, wie seine Spannung stieg, während die Uhr tickte und den Abend und dann die Nacht erreichte.
    Als Sejers Telefon zum zweitenmal schellte, war es fast Mitternacht. Er döste mit der Zeitung auf dem Schoß in seinem Sessel vor sich hin, das Blut floß leicht durch seine Adern, verdünnt mit einem kleinen Whisky. Er ließ ein Taxi kommen und stand zwanzig Minuten später im Büro.
    »Sie sind in einem alten Toyota gekommen«, erzählte Skarre hektisch. »Ich habe draußen auf sie gewartet. Ihre Eltern.«
    »Was hast du ihnen gesagt?«
    »Sicher nicht das Richtige. Ich bin ein bißchen gestreßt. Sie haben angerufen, und dreißig Minuten später waren sie hier. Sie sind schon wieder weg.«
    »Zur Gerichtsmedizin?«
    »Ja.«
    »So sicher wart ihr euch also?«
    »Sie hatten ein Foto bei sich. Die Mutter konnte ihre Kleidung genau beschreiben. Alles stimmte, von der Gürtelschnalle bis zur Unterwäsche. Sie hatte einen besonderen BH für Sportlerinnen. Sie hat ziemlich viel trainiert. Aber die Windjacke ist nicht ihre.«
    »Wie bitte?«
    »Ziemlich unglaublich, nicht?«
    Skarre konnte nicht dagegen an, er war zwar erschüttert, aber seine Augen funkelten trotzdem.
    »Er hat uns ganz einfach eine Spur geschenkt. In ihrer Tasche hatte sie eine Tüte Bonbons und ein eulenförmiges Reflexplättchen. Sonst nichts.«
    »Daß er seine Jacke hinterlassen hat, kapiere ich nicht. Wer ist sie denn eigentlich?«
    Skarre sah in seinen Notizen nach. »Annie Sofie

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