Fremde Blicke
er das unbedingt wollte. Eigentlich hat es sie beim Laufen gestört.«
Ihre Stimme war hell und zart, paßte eher zu einem kleinen Mädchen, nicht zu einer Frau, die sechs Jahre älter war als Annie. Sei lieb zu mir, bat diese Stimme zaghaft, du siehst doch, daß ich klein und zerbrechlich bin.
»Haben Sie ihre Freunde gekannt?«
»Die sind doch jünger als ich. Aber ich weiß, mit wem Annie befreundet war.«
S0lvi machte sich an ihren Ringen zu schaffen und zögerte kurz, so als versuche sie, sich erst mal ein Bild zu machen von der neuen Situation, in die sie da geraten war.
»Und wer hat sie wohl am besten gekannt?«
»Sie war viel mit Anette zusammen, aber nur, wenn sie etwas Bestimmtes vorhatten. Nicht einfach so zum Quatschen, meine ich.«
»Ihr wohnt hier ein wenig abgelegen«, sagte Sejer vorsichtig. »Ist sie manchmal getrampt?«
»Nie. Ich auch nicht«, sagte S0lvi schnell. »Aber wir werden trotzdem oft mitgenommen, wenn wir an der Straße entlanggehen. Wir kennen hier doch fast alle.«
Fast, dachte Sejer.
»Ist Annie Ihnen vielleicht unglücklich vorgekommen?«
»Nicht direkt unglücklich. Aber auch nicht gerade überschäumend glücklich. Sie hatte nicht besonders viele Interessen. Ich meine, Mädcheninteressen. Für sie gab es nur Schule und Laufen.«
»Und vielleicht Halvor?«
»Ich weiß nicht so recht. Auch Halvor schien ihr eher gleichgültig zu sein. Sie konnte sich irgendwie nie so ganz entscheiden.«
Sejer sah vor seinem inneren Auge ein Bild, ein halbwegs abgewandtes Mädchen mit skeptischem Blick, das tat, was es selber wollte, das eigene Wege ging und alle anderen auf Distanz hielt. Warum?
»Ihre Mutter sagt, Annie sei früher glücklicher gewesen«, sagte er. »Finden Sie das auch?«
»Ach ja, früher war sie viel gesprächiger.«
Skarre räusperte sich. »Diese Veränderung«, sagte er, »ist die plötzlich eingetreten, was meinen Sie? Oder kam sie eher schrittweise, über einen längeren Zeitraum?«
»Nein.« Mutter und Tochter wechselten einen Blick. »Keine
Ahnung. Sie hat sich einfach verändert.«
»Können Sie etwas über den Zeitpunkt sagen, S0lvi?«
S0lvi zuckte mit den Schultern. »Irgendwann im letzten Jahr. Sie hat erst mit Halvor und gleich darauf mit dem Handball Schluß gemacht. Und sie ist so schrecklich gewachsen. Sie wuchs aus allen Kleidern heraus und wurde irgendwie ganz still.«
»Meinen Sie sauer oder mürrisch?«
»Nein. Nur still. Enttäuscht vielleicht.«
Enttäuscht.
Sejer nickte. Er schaute S0lvi an. Ihre Stretchhose war einfach überwältigend, sie hatte dieselbe Farbe wie der Flieder seiner Kindheit.
»Wissen Sie, ob Annie und Halvor eine sexuelle Beziehung hatten?«
S0lvi wurde tiefrot. »Das weiß ich nicht so genau. Fragen Sie doch lieber Halvor.«
»Ja, das werde ich.«
»Diese Schwester«, sagte Sejer, als sie im Wagen saßen, »das ist der Typ Frau, der oft als Opfer endet. Ich meine, bei einem Mann mit üblen Absichten. So mit sich selber und ihrem Aussehen beschäftigt, daß sie die Gefahrensignale übersieht. S0lvi. Nicht Annie. Annie war zurückhaltend und sportlich. Wollte nirgendwo Eindruck schinden. Sie ist nicht getrampt, wollte keine neuen Leute kennenlernen. Wenn sie in ein Auto eingestiegen ist, dann nur, wenn sie den Fahrer kannte.«
»Das sagen wir immer.«
Sejer blickte Skarre an.
»Das weiß ich.«
»Du hast eine Tochter«, fragte Skarre neugierig, »die die Pubertät hinter sich hat. Wie war das eigentlich?«
»Ach«, murmelte Sejer und schaute aus dem Fenster. »Darum hat sich vor allem Elise gekümmert. Aber ich kann mich schon erinnern. Die Pubertät ist ein ziemlich unwegsames Gelände. Ingrid war ein Sonnenstrahl, bis sie dreizehn wurde, dann fing sie an zu fauchen. Sie fauchte bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr, dann fing sie an zu kläffen. Und dann hat es wieder aufgehört.«
Es hatte aufgehört, und er dachte daran, wie sie fünfzehn und zu einer kleinen Frau geworden war und er nicht gewußt hatte, was er zu ihr sagen sollte. Sicher war das bei Hollands auch so gewesen. Das Kind ist kein Kind mehr, und man muß eine neue Sprache finden. Schwierig.
»Es hat also ein oder zwei Jahre gedauert, bis es vorbei war?«
»Ja«, sagte Sejer nachdenklich. »So war das wohl.«
»Diese Veränderung beschäftigt dich offenbar?«
»Es kann etwas passiert sein. Ich muß herausfinden, was. Wer sie war, wer sie umgebracht hat und warum. Es wird Zeit für einen Besuch bei Halvor Muntz. Er wartet sicher schon auf
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