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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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uns. Wie dem wohl zumute ist, was meinst du?«
    »Keine Ahnung. Darf ich in deinem Auto rauchen?«
    »Nein. Übrigens werden deine Haare ein bißchen zu lang, findest du nicht?«
    »Doch, jetzt wo du es sagst.«
    »Nimm dir doch eine Halspastille.«
    Jeder schaute zwinkernd auf seiner Seite aus dem Fenster. Skarre griff in seinem Nacken nach einer Locke und zog sie zu ihrer vollen Länge glatt. Als er sie losließ, schnurrte sie sofort wieder in sich zusammen wie ein Wurm auf einer Kochplatte.

ER KAM IHR IRGENDWIE bekannt vor. Deshalb zog sie den Sessel näher heran und hielt ihr runzliges Gesicht direkt vor den Bildschirm. So saß sie im Gegenlicht, und er sah die immer länger werdenden Bartstoppeln an ihrem Kinn. Sie mußte unbedingt mal rasiert werden, überlegte er, wußte aber nicht, wie er das Thema zur Sprache bringen sollte.
    »Das ist Johann Olav!« schrie sie. »Der trinkt Milch.«
    »Mhm.«
    »Himmel, das ist vielleicht ein flotter Bursche! Ob er sich dessen bewußt ist? Er ist wie eine Skulptur, wirklich. Wie eine lebendige Skulptur.«
    Koss wischte sich die Milch von der Oberlippe und lächelte mit kreideweißen Zähnen.
    »Nein, sieh dir doch bloß an, was der Junge für ein Gebiß hat! Kreideweiße Zähne! Weil er Milch trinkt. Das solltest du auch tun, mehr Milch trinken. Und dann hatte er ja auch den Schulzahnarzt, das hatten wir nicht.«
    Sie zog die Decke über den Schoß. »Hatten kein Geld für Zahnpflege, mußten sie uns eben ziehen lassen, wenn sie verfaulten, ihr aber habt den Schulzahnarzt und Milch und Vitamine und gesunde Ernährung und Zahnpasta mit Fluor und was weiß ich noch alles.« Sie seufzte tief. »Das kann ich dir sagen, ich hab im Klassenzimmer gesessen und geweint. Nicht weil ich nicht gelernt hatte, sondern weil ich so hungrig war. Natürlich seht ihr gut aus, ihr jungen Leute von heute. Ich beneide euch! Hörst du, was ich sage, Halvor? Ich beneide euch!«
    »Ja, Großmutter.«
    Mit zitternden Fingern zog er Bilder aus einer gelben Fototasche. Ein schmächtiger junger Mann mit schmalen Schultern, er hatte keine große Ähnlichkeit mit dem Schlittschuhläufer aus der Fernsehreklame. Sein Mund war klein wie bei einem Mädchen, der eine Mundwinkel war ein wenig verzogen, und wenn er ein seltenes Mal lächelte, folgte der Mundwinkel dieser Bewegung nicht. Bei genauerem Hinsehen konnte man die Narbe erkennen, die sich vom rechten Mundwinkel bis zum Haaransatz über der Schläfe hinzog. Er hatte weiche braune, kurzgeschnittene Haare und bescheidenen Bartwuchs. Auf den ersten Blick wurde er oft für fünfzehn gehalten, deshalb mußte er an der Kinokasse immer wieder seinen Ausweis vorlegen. Er machte deswegen kein großes
    Geschrei, er war kein Querulant.
    Langsam sah er die Bilder durch, die er schon unzählige Male betrachtet hatte. Nun aber hatten sie eine neue Dimension gewonnen. Jetzt suchte er darauf nach Vorwarnungen, nach Hinweisen auf das, was viel später passiert war und wovon er nichts geahnt hatte, als er die Bilder aufnahm. Annie mit dem Holzhammer, wie sie mit gewaltiger Kraft einen Hering in den Boden schlug. Annie am Rand des Sprungbretts, gerade wie eine Säule in ihrem schwarzen Badeanzug. Annie, schlafend im grünen Schlafsack. Annie auf dem Rad, ihr Gesicht von den blonden Haaren verborgen. Er selbst, wie er sich mit dem Gaskocher abmühte. Eins von ihnen beiden, aufgenommen von den Leuten im Nachbarzelt. Es hatte ihn große Mühe gekostet, sie zu überreden. Sie fand es grauenhaft, vor der Kamera zu stehen.
    »Halvor!« schrie seine Großmutter, die jetzt am Fenster stand. »Da kommt die Polizei!«
    »Ja«, sagte er leise.
    »Was wollen die hier?« Sie sah ihn an, plötzlich besorgt. »Was wollen die von uns?«
    »Die kommen wegen Annie.«
    »Wegen Annie?«
    »Sie ist tot.«
    »Was sagst du da?«
    Entsetzt stolperte sie wieder zu ihrem Sessel und stützte sich auf die Armlehne.
    »Sie ist tot. Und jetzt wollen sie mich ausfragen. Ich habe gewußt, daß sie kommen, ich habe schon auf sie gewartet.«
    »Warum sagst du so was von Annie?«
    »Weil es stimmt!« schrie er. »Sie ist gestern gestorben. Ihr Vater hat angerufen!«
    »Aber warum?«
    »Das weiß ich doch nicht! Ich weiß nicht, warum, ich weiß nur, daß sie tot ist.«
    Er schlug die Hände vors Gesicht. Die Großmutter fiel wie ein Sack in ihren Sessel, noch bleicher als sonst. Ihr Leben war nun schon so lange friedlich verlaufen. Das konnte natürlich nicht so weitergehen, das war unmöglich.
    Unten

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