Fremde Blicke
Frieden zu finden. Und sie lachte noch mehr und war schon hinter der Biegung verschwunden.«
»War sie je hier im Haus?«
»Ja. Eddie hat sie an dem Tag, als wir eingezogen sind, mit einem Blumentopf hergeschickt. Als Willkommensgruß. Nihmet hat geweint«, sagte Irmak und schaute zu seiner Frau hinüber. Sie weinte auch jetzt, zog sich den Schal vors Gesicht und kehrte ihnen den Rücken zu.
Als Sejer ging, bedankten die beiden sich für den Besuch und sagten, er sei jederzeit willkommen. Sie standen in dem engen Flur und sahen ihn an. Die Kleine hing am Rockzipfel ihrer Mutter, sie erinnerte ihn mit ihren dunklen Augen und den schwarzen Locken an Matteus. Auf der Straße blieb Sejer für einen Moment stehen. Starrte zu Skarre hinüber, der gerade Nummer neun verließ. Sie nickten einander zu, dann gingen sie ihrer Wege.
»Viele verschlossene Türen?« fragte Skarre.
»Nur zwei. Bei Johnas in Nummer vier und bei Rud in Nummer acht.«
»Bei mir waren alle da.«
»Irgendwelche unmittelbaren Erkenntnisse?«
»Nur die, daß sie alle gekannt hat und seit Jahren überall ein und aus ging. Und daß sie offenbar bei allen sehr beliebt war.«
Sie klingelten bei Hollands. Eine junge Frau öffnete, sicher Annies Schwester, sie sahen einander ähnlich und waren trotzdem sehr verschieden. Die Schwester hatte so blonde Haare wie Annie, ihr Scheitel jedoch war dunkel. Ihre Augen waren von schwarzer Wimperntusche umrahmt. Die Augen schienen darin gefangen, sehr hell und unsicher. Sie war nicht groß und kräftig wie Annie, nicht sportlich und gut gebaut. Sie trug eine lila Stretchhose mit eingenähter Bügelfalte und eine weiße Bluse mit mehreren offenen Knöpfen.
»S0lvi?« fragte Sejer.
Sie nickte und reichte ihm eine weiche Hand. Führte sie ins Haus und suchte sofort bei ihrer Mutter Zuflucht. Frau Holland saß in derselben Sofaecke wie am Abend zuvor. Ihr Gesicht hatte sich im Laufe dieser wenigen Stunden verändert; sie schien nicht mehr außer sich vor Verzweiflung, sondern müde und erschöpft und um einiges gealtert. Herr Holland war nicht zu sehen. Sejer versuchte, S0lvi zu mustern, ohne sie anzustarren. Sie hatte ein anderes Gesicht und eine andere Figur als ihre Schwester, sie hatte weder Annies breite Wangenknochen noch ihr energisches Kinn oder ihre großen grauen Augen. Weicher und schwächlicher, dachte er. Nach einer halben Stunde hatte ihr Gespräch ergeben, daß die beiden Schwestern nie besonders aneinander gehangen hatten. Jede hatte ihr eigenes Leben gelebt. S0lvi arbeitete als Mädchen für alles in einem Frisiersalon, sie hatte sich nie für fremde Kinder interessiert und niemals Sport getrieben. Sejer nahm an, daß sie sich vor allem für sich selbst interessierte. Für ihr Aussehen. Sogar jetzt, als sie unmittelbar nach dem Tod ihrer Schwester neben ihrer Mutter auf dem Sofa saß, arrangierte sie ihren Körper auf vorteilhafte Weise, wie aus alter Gewohnheit. Sie zog ein Knie ein wenig an, legte den Kopf leicht schräg, faltete vor den Beinen die Hände. Mehrere Ringe glitzerten an ihren Fingern. Ihre Fingernägel waren lang und rot. Ein runder Körper ohne Kanten, ohne Charakter, es war, als fehlten ihr Skelett und Muskeln, sie schien nur aus rosafarbener, über einem Klumpen Knetgummi gezogener Haut zu bestehen. S0lvi war um einiges älter als Annie, aber ihr Gesichtsausdruck war naiv. Die Mutter hatte eine beschützende Haltung eingenommen und streichelte immer wieder S0lvis Arm, als wolle sie sie die ganze Zeit trösten oder vielleicht ermahnen, Sejer war sich da nicht sicher. Die beiden Schwestern waren wirklich sehr verschieden gewesen. Annies Gesicht auf den Bildern wirkte reifer. Sie schaute mit skeptischer Miene in die Kamera, als werde sie nicht gern fotografiert, habe sich als wohlerzogenes Kind jedoch der Übermacht beugen müssen. S0lvi dagegen posierte so mehr oder weniger die ganze Zeit. Sie sieht eher der Mutter ähnlich, überlegte Sejer, während Annie nach dem Vater kommt.
»Wissen Sie, ob Annie in letzter Zeit neue Bekanntschaften geschlossen hatte? Hatte sie neue Leute kennengelernt? Hat sie so etwas erwähnt?«
»Sie hatte kein Interesse daran, Leute kennenzulernen.«
S0lvi strich ihre Bluse glatt.
»Wissen Sie, ob sie Tagebuch geführt hat?«
»Ach nein, Annie doch nicht. Sie war nicht so. Sie war anders als andere Mädchen, mehr wie ein Junge. Hat sich nicht einmal geschminkt. Mochte sich auch nicht hübsch machen. Sie hat Halvors Medaillon getragen, aber nur, weil
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