Fremde Blicke
hat aber trotzdem angerufen. Worüber haben Sie sich unterhalten?«
»Wenn Sie das unbedingt wissen müssen - über Gott und die Welt.«
Sejer lächelte. Halvor starrte die ganze Zeit aus dem Fenster, so als ob er Blickkontakt vermeiden wollte. Vielleicht fühlte er sich schuldig, vielleicht hatte er einfach Hemmungen. Sejer und Skarre empfanden beide eine wehmütige Sympathie für ihn. Seine Freundin war tot, und vielleicht konnte er mit niemandem reden, abgesehen von der Großmutter, die im Wohnzimmer wartete. Und vielleicht, dachte Sejer, ist er ja ein Mörder.
»Und gestern waren Sie ganz normal bei der Arbeit? In der Eiscremefabrik?«
Halvor zögerte kurz. »Nein, ich war zu Hause.«
»Sie waren zu Hause? Warum?«
»Ich war nicht so gut drauf.«
»Machen Sie oft blau?«
»Nein, ich mache nicht oft blau.« Halvor hob die Stimme. Zum erstenmal hörten sie eine Andeutung von Zorn.
»Ihre Großmutter kann das natürlich bestätigen?«
»Ja.«
»Und Sie haben das Haus den ganzen Tag nicht verlassen?«
»Nur ganz kurz, ein Mal.«
»Aber Sie waren doch krank?«
»Wir müssen trotzdem was essen. Und für meine Großmutter ist der Weg zum Laden nicht leicht. Sie schafft es nur an guten Tagen, und davon hat sie nicht viele. Sie hat Gelenkrheumatismus«, erklärte Halvor.
»Alles klar, ich verstehe. Können Sie uns erzählen, was Ihnen gefehlt hat?«
»Nur, wenn es unbedingt sein muß.«
»Im Moment ist das nicht der Fall, aber das kann sich noch ändern.«
»Na gut. Manchmal kann ich nachts nicht schlafen.«
»Ach? Und dann bleiben Sie zu Hause?«
»Ich habe die Maschine nicht im Griff, wenn ich nicht klar im Kopf bin.«
»Das leuchtet ein. Warum haben Sie manchmal schlaflose
Nächte?«
»Ach, ich schleppe noch Dinge aus meiner Kindheit mit mir herum. So sagt man doch, oder?«
Er lächelte plötzlich, ein bitteres Lächeln, das in dem jungen Gesicht unerwartet erwachsen wirkte.
»Wann ungefähr sind Sie losgegangen?«
»Vielleicht gegen elf.«
»Zu Fuß?«
»Mit dem Motorrad.«
»Und wo haben Sie eingekauft?«
»Im Kiwi-Markt im Zentrum.«
»Gestern ist es also angesprungen?«
»Eigentlich springt es immer an, wenn ich es lange genug versuche.«
»Wie lange waren Sie unterwegs?«
»Keine Ahnung. Ich konnte doch nicht riechen, daß ich mich heute rechtfertigen muß.«
Sejer nickte. Skarre mühte sich wie besessen mit dem Kugelschreiber ab, um mit dem Gespräch Schritt zu halten.
»Wie lange ungefähr?«
»Eine Stunde vielleicht.«
»Und das kann Ihre Großmutter bestätigen?«
»Natürlich nicht. Soviel bekommt sie nicht mehr mit.«
»Haben Sie einen Führerschein?«
»Nein.«
»Wie lange waren Sie mit Annie zusammen?«
»Ziemlich lange. Zwei Jahre.« Halvor fuhr sich mit dem Handrücken über die Oberlippe und starrte auf den Hof hinaus. »Hatten Sie eine gute Beziehung, was meinen Sie?«
»Einige Male war zwischendurch Schluß.«
»Hatte dann Annie Schluß gemacht?«
»Ja.«
»Hat sie gesagt, warum?«
»Eigentlich nicht. Manchmal war sie einfach nicht so interessiert. Sie wollte am liebsten alles auf Kumpelebene laufen lassen.«
»Und Ihnen war das nicht recht?«
Halvor errötete und starrte seine Hände an.
»Hatten Sie eine sexuelle Beziehung?«
Jetzt errötete er noch mehr und schaute wieder zum Hof hinunter.
»Eigentlich nicht.«
»Eigentlich nicht?«
»Wie gesagt, das interessierte sie nicht so sehr.«
»Aber Sie haben es versucht, nicht wahr?«
»Ja, ein bißchen. Einige Male.«
»Aber es war vielleicht kein großer Erfolg?«
Sejers Stimme klang gerade besonders freundlich.
»Ich weiß nicht, was dabei als großer Erfolg gilt.«
Jetzt war Halvors Gesicht so verspannt, daß keinerlei Mimik mehr zu erkennen war.
»Wissen Sie, ob sie mit anderen Sex hatte?«
»Nein, weiß ich nicht. Aber ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen.«
»Sie waren also seit über zwei Jahren mit Annie zusammen, seit Annie dreizehn war. Sie hat mehrmals Schluß gemacht, an Sex war sie nicht weiter interessiert - und Sie haben die Beziehung trotzdem fortgesetzt? Sie sind doch kein Kind mehr, Halvor. Sind Sie so geduldig?«
»Ja, wahrscheinlich.«
Halvors Stimme war leise und sachlich, er schien sich die ganze Zeit in acht zu nehmen, daß er ja keine Gefühle zeigte.
»Glauben Sie, Annie gut gekannt zu haben?«
»Besser als viele andere.«
»Ist sie Ihnen aus irgendeinem Grund unglücklich vorgekommen?«
»Nicht gerade unglücklich. Eher - ach, ich weiß auch nicht.
Weitere Kostenlose Bücher