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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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wieder sahen sie Unglaube und Schock in fassungslosen Gesichtern. Einige Frauen brachen in Tränen aus, die Männer waren blaß und schweigsam. Die Besucher warteten höflich ab, dann stellten sie ihre Fragen. Alle kannten Annie gut. Mehrere Frauen hatten gesehen, wie sie losgegangen war. Hollands wohnten im letzten Haus, Annie war also an allen Häusern vorbeigekommen. Sie hatte jahrelang für alle Kinder gehütet, abgesehen vom letzten Jahr, als sie anfing, erwachsen zu werden. Fast alle erwähnten ihre Handballkarriere und wie überrascht sie waren, als sie als Torwart aufgehört hatte, denn Annie war so gut gewesen, daß sie in der Lokalzeitung erwähnt worden war. Ein älteres Ehepaar konnte sich erinnern, daß sie früher um einiges lebhafter und zugänglicher gewesen war, sie schrieben Annies Veränderung aber der Tatsache zu, daß sie eben älter wurde. Sie war gewaltig gewachsen, sagten sie. Früher war sie ziemlich klein und schmächtig gewesen, dann aber enorm in die Höhe geschossen.
    Skarre nahm sich die Häuser nicht in der richtigen Reihenfolge vor, er befand sich jetzt im orangefarbenen Haus. Es gehörte einem Junggesellen von Ende Vierzig. Mitten im Wohnzimmer stand ein komplettes kleines Boot mit vollen Segeln, darin lagen eine Matratze und viele Kissen, auf dem Dollbord war ein Flaschenhalter angebracht. Skarre starrte es fasziniert an. Das Boot war knallrot, die Segel weiß. Seine eigene Wohnung und seine alles andere als gewöhnliche Einrichtung spukten durch seinen Hinterkopf.
    Fritzner kannte Annie nicht sehr gut, da er nicht mit Kindern zum Hüten dienen konnte. Aber sie war ab und zu mit ihm im Auto in die Stadt gefahren. Sie hatte sein Angebot angenommen, wenn das Wetter schlecht war, bei gutem Wetter hatte sie abgewinkt. Fritzner mochte Annie. »Verdammtes Handballtalent«, sagte er ernst. Sejer dagegen war bei der türkischen Familie in Nummer sechs angekommen. Die Familie Irmak wollte gerade essen, als er klingelte. Sie saßen schon zu
    Tisch, aus einer großen Schüssel in der Mitte quoll Dampf. Der Mann im Haus, eine hochgewachsene Gestalt in besticktem Hemd, reichte ihm eine braune Hand. Sejer teilte ihnen mit, daß Annie Holland tot war. Aller Wahrscheinlichkeit nach sei sie ermordet worden. »Nein«, sagten die Irmaks entsetzt. Das kann doch nicht wahr sein! Die Hübsche aus Nummer zwanzig, Eddies Tochter! Die einzige Familie, die sie bei ihrem Einzug freundlich empfangen hatte! Sie waren schon häufiger umgezogen und durchaus nicht überall willkommen gewesen. Das konnte einfach nicht wahr sein! Der Mann packte Sejer am Arm und zog ihn zum Sofa.
    Sejer setzte sich. Irmak hatte nicht diese vorsichtige, untertänige Art, die er so oft bei Ausländern erlebt hatte, er strotzte nur so vor Würde und Selbstvertrauen. Das war befreiend.
    Die Frau hatte Annie gesehen. So gegen halb eins, glaubte sie. Sie hatte einen Rucksack getragen und war ruhig an den Häusern vorbeigegangen. Sie hatte Annie noch nicht lange gekannt, sie wohnten erst seit vier Monaten da.
    »Jungenhaftes Mädchen«, sagte die Frau und zog den Schal um ihren Kopf gerade. »Groß! Viele Muskeln!« Sie schlug die Augen nieder.
    »Hat Annie auch manchmal bei Ihnen Kinder gehütet?«
    Sejer nickte zum Tisch hinüber, an dem ein kleines Mädchen ungeduldig wartete. Ein schweigsames, ungewöhnlich schönes Kind mit dichten Wimpern. Ihr Blick war tief und schwarz wie ein Bergwerksschacht.
    »Wir wollten sie eigentlich fragen«, sagte der Mann rasch. »Aber die Nachbarn meinten, sie mache das nicht mehr. Und wir wollten sie nicht drängen. Außerdem ist meine Frau den ganzen Tag zu Hause, wir kommen also zurecht. Nur ich muß morgens zur Arbeit. Wir haben einen Lada. Die Nachbarn finden, das ist kein richtiges Auto, aber für uns reicht es. Ich fahre jeden Tag in die Poppeisgate, da habe ich meine
    Gewürzhandlung. Den Ausschlag auf Ihrer Stirn kann man übrigens mit Gewürzen wegkriegen. Aber nicht mit den Gewürzen aus dem Supermarkt, sondern mit echten. Von Irmaks.«
    »Ach? Ist das wirklich möglich?«
    »Die reinigen das System. Treiben den Schweiß schneller raus.«
    Sejer nickte ernst. »Sie hatten also nicht viel mit Annie zu tun?«
    »Nein, das nicht. Manchmal, wenn sie vorbeilief, habe ich sie angehalten und ihr mit dem Finger gedroht. Ich habe gesagt, du läufst vor deiner Seele weg, Kleine. Und sie lachte. Ich sagte, ich kann dir Meditieren beibringen. An der Straße entlangzulaufen ist eine umständliche Methode,

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