Fremde Blicke
Wohnzimmer saß die Großmutter in einem Schaukelstuhl, sorgfältig in eine Decke gewickelt. Sie starrte den Besuchern ängstlich hinterher. Draußen stand das Motorrad unter seiner Plastikplane. Eine schwarze Suzuki.
»Denkst du dasselbe wie ich?« fragte Skarre, als sie losfuhren.
»Vermutlich. Er hat keine Frage gestellt. Keine einzige.
Irgendwer hat seine Freundin umgebracht, aber besonders neugierig ist er deshalb nicht. Aber das muß nicht unbedingt etwas bedeuten.«
»Seltsam war es trotzdem.«
»Vielleicht geht ihm das jetzt auch gerade auf.«
»Oder vielleicht weiß er, was mit ihr passiert ist. Und hat deshalb keine Fragen gestellt.«
»Die Windjacke, die wir gefunden haben, wäre Halvor doch viel zu groß, oder?«
»Aber die Ärmel waren aufgekrempelt.«
Es war später Nachmittag, und sie brauchten eine Pause. Sie fuhren zurück in die Stadt und überließen die Bewohner des kleinen Dorfes ihrem Schock und ihren Gedanken. Im Krystall liefen die Menschen hin und her, Türen schlugen, Telefone schellten. Schubladen wurden nach alten Fotos durchwühlt. Annies Schicksal war in aller Munde. Die allerersten vagen Gerüchte wurden bei Kerzenlicht erzählt und verbreiteten sich dann wie ein Lauffeuer in allen Häusern. Hier und dort wurde ein Schnaps eingeschenkt. In dem kurzen Straßenstück herrschte Ausnahmezustand, und eine Reihe von Regeln wurde eine nach der anderen gebrochen.
Raymond dagegen war anderweitig beschäftigt. Er saß am Küchentisch und klebte Bilder in ein Buch, Calvin und Hobbes und die Haiopais. Die Deckenlampe brannte, sein Vater hielt Mittagsschlaf, das Radio brachte das Wunschkonzert. Herzlichen Glückwunsch für Glenn Kare, mit lieben Grüßen von seiner Oma. Raymond hörte zu und schnüffelte am Klebestift, freute sich über den feinen Duft von Mandelessenz. Er bemerkte den Mann nicht, der ihn durch das Fenster anstarrte.
HALVOR SCHLOSS DIE KÜCHENTÜR und schaltete seinen Computer ein. Nachdenklich starrte er die Namen der Dateien an. Sie enthielten Spiele, seine Steuererklärung, Abrechnungen, Adressen, eine Übersicht über seine CD-Sammlung und andere
Nebensächlichkeiten. Aber es gab noch mehr. Eine Datei, deren Inhalt ihm unbekannt war. Die Datei »Annie«. Er starrte diesen Namen an und dachte nach. Zwei Mausklicks würden die Dateien eine nach der anderen öffnen und ihren Inhalt eine Sekunde später über den Bildschirm flackern lassen. Mit zwei Ausnahmen. Er selbst hatte eine mit dem Vermerk »Privat«. Um sie zu öffnen, mußte er einen Code eingeben, der nur ihm bekannt war. Und das galt auch für Annies Datei. Er hatte ihr gezeigt, wie sie sie sperren konnte, weiter schwierig war das ja nicht. Er hatte keine Ahnung, welches Codewort sie gewählt hatte oder was die Datei enthielt. Sie hatte ihm das unbedingt verschweigen wollen, hatte angesichts seiner Enttäuschung kurz gelacht. Er hatte ihr alles erklärt, dann hatte er das Zimmer verlassen und im Wohnzimmer warten müssen, während sie ihren Code eingab. Aus Jux klickte er zweimal und erhielt augenblicklich die Antwort: Access denied. Password required.
Jetzt wollte er die Datei öffnen. Sie war das einzige, was ihm noch von Annie blieb. Wenn dort nun etwas über ihn stand, etwas, das für ihn gefährlich sein konnte? Vielleicht war es eine Art Tagebuch. Natürlich werde ich nie dahinterkommen, dachte er und betrachtete mutlos die Tastatur, deren zehn Ziffern, neunundzwanzig Buchstaben und viele unterschiedliche Zeichen eine Menge von Kombinationsmöglichkeiten ergaben, die er sich einfach nicht vorstellen konnte. Er versuchte sich zu entspannen, und überlegte sich, daß er selbst einen Namen genommen hatte. Den Namen einer berühmten Frau, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt und später zur Heiligen erhöht worden war. Eine perfekte Wahl, auf die nicht einmal Annie gekommen wäre. Aber vielleicht hatte Annie sich ein Datum ausgesucht. Ein Geburtsdatum, vielleicht von jemandem, der ihr nahestand, das machten viele. Eine Zeitlang starrte Halvor auf den Bildschirm, ein graues, unansehnliches Quadrat mit Annies Namen. Nun hatte er die Datei ja auch gar nicht öffnen sollen, schließlich hatte Annie sie gesperrt, weil der Inhalt ihr
Geheimnis bleiben sollte. Aber sie war nicht mehr da, deshalb galten die alten Regeln nicht mehr. Vielleicht enthielt die Datei etwas, das erklären konnte, warum sie so gewesen war. So verdammt unzugänglich.
Seine Einwände zerfielen und blieben wie Staub in den Ecken liegen. Er
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