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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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war jetzt allein, mit unendlich viel Zeit und nichts, um diese Unendlichkeit zu füllen. Wenn er hier im halbdunklen Zimmer saß und den leuchtenden Bildschirm anstarrte, dann fühlte er sich Annie sehr nahe. Er beschloß, es zunächst mit Zahlen zu versuchen, mit Geburtstagen oder Personenkennziffern. Einige wußte er auswendig, Annies, seine eigenen, die seiner Großmutter. Andere konnte er sich besorgen. Für den Anfang war das schon allerlei. Natürlich konnte sie auch ein Wort genommen haben. Oder mehrere, ein Sprichwort oder ein bekanntes Zitat, vielleicht auch einen Namen. Es würde eine mühsame Arbeit werden. Er wußte nicht, ob er die Aufgabe jemals lösen würde, aber er hatte Zeit und Geduld genug. Und außerdem gab es noch andere Methoden.
    Er fing mit ihrem Geburtsdatum an, das sie natürlich nicht genommen hatte: 3. März 1980, 03031980. Anschließend gab er diese Zahlenfolge auch noch rückwärts ein.
    »Access denied«, verkündete der Bildschirm. Und plötzlich stand die Großmutter in der Tür.
    »Was haben sie gesagt?« fragte sie, sich am Türrahmen abstützend.
    Er fuhr zusammen und setzte sich gerade hin.
    »Nichts Besonderes. Sie wollten nur ein paar Fragen stellen.«
    »Aber das ist doch grauenhaft, Halvor! Wieso ist sie tot?«
    Schweigend starrte er sie an.
    »Ihr Vater hat gesagt, sie hätten sie im Wald gefunden. Oben beim Schlangenweiher.«
    »Aber wieso war sie denn tot?«
    »Das haben sie nicht gesagt«, flüsterte Halvor. »Und ich habe vergessen zu fragen.«
    Sejer und Skarre hatten sich im Vortragsraum in der Baracke hinter dem Gericht ausgebreitet. Sie zogen die Vorhänge vor und knipsten alle Lampen aus. Sie hatten das Video fast ganz zurückgespult. Skarre saß mit der Fernbedienung bereit.
    Die Schallisolierung in diesem eilig hochgezogenen Gebäude war kein Grund zum Protzen. Sie hörten Telefone schellen, Türen schlagen, Stimmen, Lachen und von der Straße her Motorenlärm. Auf dem Hinterhof grölte ein Betrunkener. Immerhin waren die Geräusche gedämpft, verrieten, daß der Tag zur Neige ging.
    »Was in aller Welt ist das denn?«
    Skarre beugte sich vor.
    »Eine Läuferin. Sieht aus wie Grete Waitz. Scheint der New-York-Marathon zu sein.«
    »Vielleicht hat er uns das falsche Video mitgegeben?«
    »Bestimmt nicht. Stop, ich habe Inselchen und Schären gesehen.«
    Das Bild hüpfte eine Weile hin und her, dann hatte es sich endlich beruhigt und zeigte zwei Frauen in Bikinis, die auf einer Felsplatte lagen.
    »Die Mutter und S0lvi«, sagte Sejer.
    S0lvi lag auf dem Rücken und hatte ein Knie angezogen. Sie hatte ihre Sonnenbrille hochgeschoben, vielleicht weil sie keine weißen Ringe um die Augen haben wollte. Die Mutter war teilweise hinter einer Zeitung versteckt, der Größe nach vermutlich Aftenposten. Neben den beiden lagen Illustrierte, Sonnencreme und Thermoskanne, mehrere große Badetücher und ein Transistorradio.
    Jetzt hatte die Kamera die beiden Sonnenanbeterinnen lange genug anvisiert. Die Linse wanderte zu einem ein Stück weit entfernten Strand, und ein großes blondes Mädchen kam von rechts her ins Bild. Sie trug ein Surfbrett über dem Kopf und wandte sich halb von der Kamera ab, dem Wasser zu. Ihr Gang war durchaus nicht herausfordernd, sie ging einfach, um anzukommen, und sie wurde nicht langsamer, als das Wasser ihr bis über die Knie und höher reichte. Sejer und Skarre hörten die ziemlich kräftigen Wellen rauschen, und sie hörten plötzlich die Stimme des Vaters, die das Rauschen übertönte: »Jetzt lächle doch mal, Annie!«
    Annie ging weiter, immer tiefer ins Wasser hinein, sie ignorierte diese Aufforderung. Eine Weile später drehte sie sich aber doch um, ein wenig mühsam unter dem Gewicht des Brettes. Einige Sekunden lang schien sie Sejer und Skarre ins Gesicht zu starren. Der Wind erfaßte ihre blonden Haare und ließ sie um ihre Ohren flattern, ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Skarre sah in ihre grauen Augen und spürte, wie eine Gänsehaut seine Arme überzog, während er zusah, wie das langbeinige Mädchen durch die Wellen stapfte. Sie trug wie die professionellen Schwimmerinnen einen schwarzen Badeanzug mit einem Kreuz hoch oben im Rücken, und eine blaue Schwimmweste.
    »Das Brett da ist nichts für Anfänger«, murmelte Skarre.
    Sejer gab keine Antwort. Annie ging immer tiefer ins Wasser. Sie blieb stehen, stieg auf das Brett, griff mit starken Händen nach dem Segel, fand das Gleichgewicht. Dann drehte sich das Brett um

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