Fremde Blicke
Schwermütig vielleicht.« »Ist das etwas anderes? Schwermütig zu sein?«
»Ja.« Halvor blickte auf. »Wer unglücklich ist, hofft noch auf Besserung. Wenn wir aufgeben, setzt die Schwermut ein.«
Sejer lauschte dieser Erklärung mit leichter Verwunderung.
»Als ich Annie vor zwei Jahren kennengelernt habe, war sie ganz anders«, sagte Halvor plötzlich. »Scherzte und lachte mit allen. Sie war das genaue Gegenteil von mir«, fügte er hinzu.
»Und dann hat sie sich verändert?«
»Sie ist plötzlich so groß geworden. Und viel stiller. War nicht mehr so verspielt. Ich habe gewartet, ich dachte, es würde sich schon wieder legen und sie würde wieder die alte sein. Aber jetzt kann ich auf nichts mehr warten.«
Er rang die Hände und starrte den Boden an, dann erwiderte er mit großer Mühe Sejers Blick. Seine Augen glänzten wie nasse Steine. »Ich weiß, was Sie glauben. Aber ich habe Annie nichts getan.«
»Wir glauben gar nichts. Wir reden mit allen, verstehen Sie?«
»Ja.«
»Hat Annie Drogen genommen oder Alkohol getrunken?«
Skarre schüttelte seinen Stift, um Tinte in die Spitze zu treiben.
»Soll das ein Witz sein? Sie haben doch keine Ahnung!«
»Nein«, sagte Sejer einfach. »Ich habe sie ja nicht gekannt.«
»Entschuldigung, aber das war einfach zu albern.«
»Und Sie selber?«
»Auf diese Idee würde ich nie kommen.«
Du meine Güte, dachte Sejer. Ein nüchterner fleißiger junger Mann mit fester Arbeit. Das hört sich ja richtig verheißungsvoll an.
»Kennen Sie Annies Freundinnen? Anette Horgen zum Beispiel?«
»Ein bißchen. Aber meistens waren wir allein. Annie wollte uns irgendwie nicht mischen.«
»Warum nicht?« »Keine Ahnung. Sie wollte das eben so.«
»Und Sie haben getan, was Annie wollte?«
»Das war nicht weiter schwer. Ich kann große Versammlungen auch nicht leiden.«
Sejer nickte verständnisvoll. Vielleicht hatten die beiden doch zueinander gepaßt.
»Wissen Sie, ob Annie Tagebuch geführt hat?«
Halvor zögerte kurz, unterdrückte in letzter Sekunde einen Impuls und schüttelte den Kopf. »Meinen Sie so ein herzförmiges rosa Buch mit Hängeschloß?«
»Nicht unbedingt. Es kann auch anders ausgesehen haben.«
»Das glaube ich nicht«, murmelte Halvor.
»Aber sicher sind Sie sich da nicht?«
»Ziemlich sicher. Sie hat es nie erwähnt.«
Jetzt war seine Stimme kaum noch zu hören.
»Haben Sie jemanden, mit dem Sie reden können?«
»Meine Großmutter.«
»Sie hängen also an ihr?«
»Sie ist in Ordnung. Und hier ist es still und friedlich.«
»Haben Sie eine blaue Windjacke, Halvor?«
»Nein.«
»Was ziehen Sie draußen an?«
»Eine Jeansjacke. Und im Winter eine Daunenjacke.«
»Werden Sie mich anrufen, wenn Sie etwas auf dem Herzen haben?«
»Warum sollte ich?« Halvor hob verwundert den Kopf.
»Lassen Sie mich das ein wenig anders ausdrücken: Werden Sie auf der Wache anrufen, wenn Ihnen etwas einfällt, irgend etwas, das vielleicht erklären kann, warum Annie sterben mußte?«
»Ja.«
Sejer sah sich im Zimmer um, er wollte sich diesen Anblick einprägen. Sein Blick fiel auf die Madonna. Bei genauerem Hinsehen gefiel sie ihm besser als beim ersten Mal.
»Das ist eine schöne Figur. Haben Sie die vielleicht in Spanien gekauft?«
»Ich habe sie geschenkt bekommen. Von Pater Martin. Ich bin Katholik«, fügte Halvor hinzu.
Worauf Sejer ihn genauer betrachtete. Halvor wirkte verschlossen und angespannt, schien etwas zu bewachen, das seine Besucher nicht sehen durften. Und vielleicht würden sie ihn zwingen müssen, sich zu öffnen, würden ihn wie eine Muschel in kochendes Wasser werfen müssen. Diese Vorstellung war faszinierend.
»Sie sind Katholik?«
»Ja.«
»Verzeihen Sie meine Neugier - aber was zieht Sie zu diesem Glauben hin?«
»Das ist doch einleuchtend. Sündenvergebung. Verzeihung.«
Sejer nickte. »Aber Sie sind doch so jung?« Er erhob sich und lächelte Halvor an. »Da haben Sie doch sicher noch nicht sehr viel sündigen können?«
Diese Frage blieb für eine Sekunde in der Luft hängen.
»Ich habe durchaus den einen oder anderen üblen Gedanken gehegt.«
Sejers Aufmerksamkeit wandte sich für einen Moment seiner eigenen Gedankenwelt zu. »Ihre Aussage wird natürlich überprüft werden. Das machen wir immer so. Wir lassen von uns hören.«
Er drückte Halvor energisch die Hand. Versuchte, ihm einen guten Eindruck zu vermitteln. Dann gingen sie wieder durch die Küche, in der es ein wenig nach gekochtem Gemüse roch. Im
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