Fremde Blicke
werden nachher in die Urne gelegt. Schrittmacher und Nägel und einoperierte Schienen werden aus der Asche gesiebt. Was Edelmetall angeht, so hast du sicher Gerüchte gehört, daß das beiseite geschafft wird. Aber das darfst du nicht glauben«, sagte er energisch. »Das darfst du wirklich nicht.«
Sie näherten sich der Tür des Krematoriums.
»Knochen und Zähne werden in einer Mühle zu feinem, fast sandartigem grauweißem Staub zermahlen.«
Als der Mann die Mühle erwähnte, dachte Eddie an Annies Finger. An ihre dünnen feinen Finger mit dem schmalen Silberring. Erschrocken krümmte er in der Manteltasche seine eigenen.
»Wir verfolgen den Prozeß die ganze Zeit. Die Ofentür hat Glasfenster. Nach etwa anderthalb Stunden wird alles aus dem Ofen gefegt und bildet dann einen kleinen Haufen aus feiner Asche, kleiner, als die meisten sich das wohl vorstellen.«
Die ganze Zeit beobachten? Konnten sie in den Ofen schauen und sehen, was darin lag - konnten sie zusehen, wie Annie verbrannte?
»Ich kann dir die Öfen zeigen, wenn du möchtest.«
»Nein, nein!« Er preßte die Arme an seinen Leib und versuchte verzweifelt, sie still zu halten.
»Diese Asche ist sehr sauber, so ziemlich das Sauberste, was es überhaupt gibt. Erinnert an feinen Sand. Früher ist die Asche medizinisch verwertet worden, wußtest du das? Unter anderem konnte man damit Ekzeme behandeln oder sie essen. Sie enthält Salze und Mineralien. Aber wir sieben sie in eine Urne. Ich werde dir eine zeigen, damit du dir das vorstellen kannst. Die Urne kannst du dir aussuchen, es gibt verschiedene Modelle. Wir haben auch ein Standardmodell, für das sich die meisten entscheiden. Sie wird verschlossen und versiegelt und danach durch einen schmalen Schacht ins Grab hinuntergelassen. Diese Feierlichkeit nennen wir Urnenbeisetzung.«
Er öffnete die Tür für Holland, der das halbdunkle Gebäude als erster betrat.
»Auf diese Weise wird der Prozeß ganz einfach beschleunigt. Es ist irgendwie sauberer. Zu Staub werden müssen wir ja alle, aber bei herkömmlicher Bestattung ist das ein äußerst langwieriger Prozeß, der bis zu zwanzig Jahre dauern kann. Manchmal sogar dreißig oder vierzig, das kommt ganz aufs Erdreich an. Hier bei uns haben wir viel Sand und Ton, da dauert es sehr lange.«
»Das gefällt mir«, sagte Holland leise. »Staub.«
»Ja, nicht wahr? Manche möchten auch in alle Winde verstreut werden. Leider ist das hierzulande nicht erlaubt, in dieser Hinsicht herrschen hier strenge Regeln. Das Gesetz sieht vor, daß alle in geweihter Erde bestattet werden müssen.«
»Gar nicht so dumm«, sagte Holland und räusperte sich. »Aber es ist schon seltsam, welche Bilder auftauchen. Wenn man versucht, sich das vorzustellen. Wer in der Erde liegt, verrottet. Das klingt nicht gerade gut. Aber Verbrennen ist ja auch so eine Sache.«
Verrotten oder verbrennen, fragte er sich. Was ist das für eine Wahl, die ich für Annie treffen muß?
Er blieb stehen, merkte, daß seine Knie unter ihm nachgaben, ging dann aber weiter, ermutigt durch die Geduld des anderen.
»Irgendwas beim Verbrennen erinnert mich an, ja ... du weißt schon ... die Hölle. Und wenn ich die Kleine dann so vor mir sehe .« Holland senkte den Kopf.
»Das solltest du wirklich ernst nehmen. Es ist wie eine doppelte Verantwortung. Es ist nicht leicht, nein, das ist es nicht.« Der andere wiegte seinen langen schmalen Kopf hin und her. »Und man muß sich Zeit lassen. Aber wenn du eine Feuerbestattung möchtest, dann mußt du unterschreiben, daß sie selber nie auch nur ein einziges Wort dagegen vorgebracht hat. Falls sie nicht unter achtzehn ist, dann kannst du für sie die Entscheidung treffen.«
»Sie ist fünfzehn«, sagte Holland leise.
Der Aufseher schloß für einige Sekunden die Augen. Dann ging er weiter. »Komm mit mir in die Kapelle«, flüsterte er. »Dann zeige ich dir eine Urne.«
Er führte Holland die Treppe hinunter. Eine unsichtbare Hand hatte sich über sie gelegt und sperrte den Rest der Welt aus. Sie neigten sich ein wenig zueinander, der Aufseher, um Wärme zu geben, Holland, um Wärme zu finden. Die Wände unten waren grob, uneben und weiß gekalkt. Unten vor der Treppe stand ein rotweißes Blumengesteck, ein leidender Christus starrte sie von einem Kreuz an der Wand her an. Eddie faßte sich. Er spürte, daß seine Wangen ihre normale Farbe wieder annahmen und daß er sich nun sicher fühlte.
Die Urnen standen in Regalen längs der Wand. Der Aufseher
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