Fremde Blicke
Todesursache ist also Ertrinken. Sie hatte keine Operationsnarben, keine Mißbildungen, weder Muttermal noch Tätowierung, überhaupt keine Hautveränderungen. Die Haare waren ungefärbt, die Fingernägel kurz und nicht lackiert, es gab keine interessanten Partikel, vom Modder mal abgesehen. Sehr schöne Zähne. Nur in einem Backenzahn eine Plombe. - Im Blut keine Spur von Alkohol oder anderen Chemikalien. Keine Injektionsspuren. Hat am selben Tag noch gut gegessen, Brot und Milch. Keine Unregelmäßigkeiten im Gehirn. Sie ist niemals schwanger gewesen. Und«, er seufzte plötzlich und schaute Sejer an, »das wäre sie auch nie geworden.«
»Was? Wieso denn nicht?«
»Sie hatte einen großen Tumor im linken Eierstock, der schon in die Leber gestreut hat. Bösartig.«
Sejer starrte ihn an. »Willst du damit sagen, daß sie ernstlich krank war?«
»Ja. Und willst du sagen, du hättest das nicht gewußt?«
»Ihre Eltern wußten das nicht.« Sejer schüttelte ungläubig den Kopf. »Sonst hätten sie es doch gesagt, oder? Ist es möglich, daß sie selber das nicht gemerkt hat?«
»Du mußt natürlich feststellen, ob sie einen Arzt hat und ob es bekannt war. Aber sie hätte Schmerzen im Unterleib haben müssen, jedenfalls während der Menstruation. Sie hat hart trainiert. Vielleicht hat sie ständig so viele Endorphine ausgeschüttet, daß sie es nicht gemerkt hat. Aber Tatsache ist, daß sie ganz einfach erledigt war. Ich glaube nicht, daß sie noch zu retten gewesen wäre. Leberkrebs ist eine knifflige Sache.« Er nickte zur Bahre hinüber, wo sich Annies Kopf und Füße unter dem Laken abzeichneten. »In einigen Monaten wäre sie auf jeden Fall tot gewesen.«
Bei dieser Mitteilung vergaß Sejer vollständig, warum er gekommen war. Er brauchte eine Minute, um Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
»Sollte ich ihnen das erzählen? Ihren Eltern?« »Das mußt du selber entscheiden. Aber sie werden dich nach meinen Ergebnissen fragen.«
»Sie werden das Gefühl haben, Annie ein zweites Mal zu verlieren.«
»Das sicher.«
»Sie werden sich Vorwürfe machen, weil sie nichts bemerkt haben.«
»Vermutlich.«
»Was ist mit ihren Kleidern?«
»Vom Schlammwasser durchtränkt, abgesehen von der Windjacke, die ich euch geschickt habe. Aber sie trug einen Gürtel mit einer Messingschnalle.«
»Ja?«
»Mit einer großen Schnalle, die aussah wie ein Halbmond mit Augen und Mund. Das Labor hat darauf Fingerabdrücke gefunden. Zwei verschiedene. Einer war von Annie.«
Sejer kniff die Augen zusammen. »Und der andere?«
»Leider ist er unvollständig, damit ist nicht viel Staat zu machen.«
»Teufel«, murmelte Sejer.
»Der hat hier zweifellos einen Finger im Spiel. Aber der Abdruck ist wohl brauchbar genug, um Verdächtige auszuschließen. Das ist doch schon mal was?«
»Was ist mit dem roten Fleck in ihrem Nacken? Kannst du sehen, ob wir es mit einem Rechtshänder zu tun haben?«
»Nein, kann ich nicht. Aber da Annie so gut in Form war, kann es sich jedenfalls nicht um einen Schwächling handeln. Sie müssen sich ziemlich gerauft haben. Seltsam, daß sie nicht verletzt ist.«
Sejer erhob sich seufzend. »Jetzt ist sie nicht mehr unverletzt.«
»Doch, im Gegenteil. Du kannst dich davon überzeugen. Das ist ein Handwerk, und ich pfusche nicht.«
»Wann kann ich das schriftlich haben?«
»Ich sage Bescheid, und dann kann der Junge mit den Locken den Bericht abholen. Was ist mit dir? Hast du schon was herausgefunden?«
»Nein«, sagte Sejer düster. »Rein gar nichts. Ich kann nicht den geringsten Grund sehen, aus dem irgendwer Annie Holland hätte umbringen wollen.«
VIELLEICHT HATTE ANNIE den Titel eines Liedes genommen? Und daraus ein Codewort gemacht? Zum Beispiel das Flötenstück, das ihr so gut gefiel, »Annie’s Song«?
Halvor grübelte und spielte am Computer herum. Die Tür zum Wohnzimmer war angelehnt, seine Großmutter konnte ihn ja brauchen. Sie hatte nur noch eine schwache Stimme, und wenn ihr Rheuma sie plagte, fiel es ihr sogar schwer, sich aus ihrem Sessel zu erheben. Er stützte das Kinn in die Hände und starrte den Bildschirm an. »Access denied. Password required.« Eigentlich hatte er Hunger. Aber wie so vieles konnte das jetzt warten.
In der Wache saß Sejer und las. Einen dicken Stapel von dichtbeschriebenen Bögen, die in einer Ecke zusammengeheftet waren. Immer wieder tauchten die Buchstaben BKH auf, Bjerkeli Kinderheim. Halvors Jugend war eine triste Geschichte. Die Mutter hatte
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