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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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nahm eine heraus und reichte sie ihm. »Bitte, sieh dir die mal an. Schönes Teil, nicht wahr?«
    Holland betastete die Urne und versuchte sich vorzustellen, es sei Annie, die jetzt in seinen Armen läge. Die Urne schien aus Metall zu sein, er wußte jedoch, daß es sich um ein abbaubares Material handeln mußte, und außerdem fühlte sie sich warm an.
    »Jetzt habe ich dir erzählt, wie das vor sich geht. So ist es, und ich habe nichts ausgelassen.«
    Eddie Holland fuhr mit den Fingern über die goldfarbene Urne. Sie lag gut in der Hand und hatte ein gewissermaßen angenehmes Gewicht.
    »Die Urne ist durchlässig, so dringt Luft ein und beschleunigt den Prozeß. Denn auch diese Urne wird verschwinden. Es hat etwas Geheimnisvolles und Großes, daß alles verschwindet, findest du nicht?« Er lächelte andächtig. »Auch wir. Auch dieses Haus und die asphaltierte Straße draußen. Aber dennoch«, sagte er und drückte Eddies Arm, »dennoch stelle ich mir gern vor, daß uns noch etwas erwartet. Etwas anderes, Spannendes. Warum sollte das auch nicht so sein?«
    Holland blickte ihn fast verwundert an.
    »Wir hängen einen Zettel mit ihrem Namen an die Urne«, sagte der andere schließlich.
    Holland nickte. Registrierte, daß er noch immer aufrecht stand. Die Zeit würde weiterhin vergehen, immer eine Minute nach der anderen. Jetzt hatte er ein wenig vom Schmerz gespürt, war ein Stückchen des Weges gegangen, zusammen mit Annie. Hatte sich die Flammen und das Bullern des Ofens vorgestellt.
    »Darauf soll Annie stehen«, sagte er bewegt. »Annie Sofie Holland.«
    Als er nach Hause kam, wusch Ada Holland, gebeugt über den Spülstein, mit müden Handbewegungen rote, erdige Kartoffeln. Sechs Kartoffeln. Pro Person zwei. Nicht acht, so wie bisher. Es sah so wenig aus. Ihr Gesicht war noch immer erstarrt, das war so seit der Sekunde, in der sie sich im Krankenhaus über die Bahre gebeugt und der Arzt das Laken entfernt hatte. Seither hatte sie diese Miene, wie eine Maske, von der sie sich nicht befreien konnte.
    »Wo warst du?« fragte sie tonlos.
    »Ich habe mir alles überlegt«, sagte Holland behutsam. »Ich finde, wir sollten Annie einäschern lassen.«
    Sie ließ die Kartoffel fallen und blickte ihn an. »Einäschern?«
    »Das habe ich mir überlegt«, wiederholte er mit leiser Stimme. »Weil jemand - sie angefaßt hat. Ihr irgendwie seinen Stempel aufgedrückt hat. Und der soll weg!«
    Er lehnte sich müde gegen den Spülstein und sah sie bittend an. Er bat sie nicht oft um etwas.
    »Was denn für einen Stempel?« fragte sie langsam und hob die Kartoffel wieder hoch. »Wir können Annie nicht einäschern lassen.«
    »Du brauchst nur etwas Zeit, um dich an diese Vorstellung zu gewöhnen«, sagte er, jetzt ein wenig lauter. »Es ist ein schöner Brauch.«
    »Wir können Annie nicht einäschern lassen«, wiederholte seine Frau und schrubbte an der Kartoffel herum. »Die Staatsanwaltschaft hat angerufen. Sie sagen, das geht nicht.«
    »Aber warum denn nicht?« schrie er und rang die Hände.
    »Für den Fall, daß sie sie exhumieren müssen. Wenn sie den Mörder gefunden haben.«

BARDY SNORRASON SCHOB eine Hand unter den Stahlgriff und zog Annie aus der Wand heraus. Die Schublade glitt fast lautlos über die geschmierten Schienen. Er brachte die Leiche des jungen Mädchens nicht in Zusammenhang mit seinem eigenen Leben oder seiner und seiner Töchter Sterblichkeit. Damit war er fertig. Er hatte guten Appetit und schlief nachts ruhig. Und weil er den Tod und das Unglück anderer mit äußerster Achtung verwaltete, ging er davon aus, daß seine Nachfolger das eines Tages so auch mit seinem Leichnam halten würden. Während seiner dreißig Jahre als Gerichtsmediziner hatte er keinen Grund gefunden, das zu bezweifeln.
    Er brauchte zwei Stunden, um alle Punkte durchzusehen. Je weiter er kam, desto klarer und vertrauter wurde das Bild. Die Lunge war gesprenkelt wie ein Vogelei, rotgelber Schaum ließ sich aus den Schnittflächen pressen. Im Gehirn war sehr viel Blut, streifenförmige Blutungen in der Hals- und Brustmuskulatur zeigten, daß sie heftig um Atem gerungen hatte. Er nahm seine Beobachtungen mit dem Diktaphon auf, kurze, unverständliche Bemerkungen, die sich höchstens von Eingeweihten deuten ließen. Später wurden sie von seinem Assistenten für den schriftlichen Bericht in korrektere Terminologie übersetzt. Als er alles durchgegangen war, legte er die Schädeldecke an Ort und Stelle, zog die Kopfhaut darüber,

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