Fremde Blicke
und ihm ging auf, daß der nun schon seit Jahren dort lag. Der Friedhof war ziemlich groß, und am Ende des Weges entdeckte er einen Mann in dunkelblauem Nylonkittel, der zwischen den Gräbern einherschlenderte. Vielleicht arbeitete der ja hier. Er bog unmerklich in Richtung des Mannes ab und hoffte, daß der von der redseligen Sorte sein würde. Er selbst wußte nicht, wie er sich verhalten sollte, aber vielleicht würde der Mann ja die Initiative ergreifen und eine Bemerkung übers Wetter machen. Immerhin haben wir noch das Wetter, dachte Eddie. Er schaute hoch und stellte fest, daß der Himmel leicht bedeckt und die Luft mild war, eine bescheidene Brise wehte.
»Guten Tag.«
Der dunkelblaue Kittel blieb wirklich stehen.
Holland räusperte sich. »Arbeiten Sie hier?«
»Ja.« Der Mann nickte zum Krematorium hinüber. »Ich bin hier das, was wir Aufseher nennen.«
Er hatte ein sympathisches Lächeln, so als ob er sich vor nichts auf der Welt noch fürchtete und jede menschliche Unzulänglichkeit schon gesehen hätte.
»Ich arbeite seit zwanzig Jahren hier. Es ist schön hier, hier kann man seine Tage gut verbringen, findest du nicht?«
Er sagte du. Das war locker und angenehm. Holland nickte.
»Doch. Und ich laufe hier herum und mache mir so meine Gedanken«, stammelte er. »Über die Zukunft und so.« Er lachte kurz und nervös. »Früher oder später müssen wir ja alle unter die Erde. Daran führt kein Weg vorbei.« Er ballte die Fäuste in den Manteltaschen. Und spürte den Knopf.
»Nein, keiner. Hast du Angehörige hier?«
»Nein, nicht hier. Die liegen zu Hause auf dem Friedhof. Bei uns ist noch nie jemand eingeäschert worden. Ich weiß im Grunde nicht so recht, worum es dabei geht«, sagte Holland. »Bei der Einäscherung, meine ich. Aber vielleicht besteht da ja gar kein großer Unterschied. Ob man nun begraben oder verbrannt wird. Aber man muß sich doch eine Meinung bilden. Ich bin zwar noch nicht so alt, aber ich bilde mir ein, ich müßte mich bald entscheiden. Ob ich begraben oder eingeäschert werden will, meine ich.«
Der andere lächelte nicht mehr. Er starrte den rundlichen Mann im grauen Mantel aufmerksam an und dachte daran, wieviel Stolz es den wohl gekostet hatte, das alles zu sagen. Es gab viele Gründe, zwischen den Gräbern spazierenzugehen. Er ging nie das Risiko ein, einen Fehler zu machen.
»Ich finde, das ist eine wichtige Entscheidung. Dabei sollte man sich Zeit lassen. Die meisten Menschen sollten mehr über ihren Tod nachdenken.«
»Ja, meinst du?«
Holland sah erleichtert aus. Er zog die Hände aus der Tasche und streckte sie aus. »Aber man schreckt ja doch davor zurück zu fragen und zu graben«, er stutzte über seine eigenen Worte. »Man hat irgendwie Angst, als komisch zu gelten. Oder als nicht ganz zurechnungsfähig, vielleicht. Wenn man etwas über den Einäscherungsprozeß wissen will, darüber, wie das abläuft.«
»Aber jeder hat einen Anspruch darauf, das zu erfahren«, antwortete der Aufseher einfach und ging einige befreiende Schritte weiter. »Nur traut niemand sich zu fragen. Oder sie wollen es nicht wissen. Ich habe Verständnis dafür, daß manche das anders sehen. Wir können ja mal ins Haus gehen, dann kann ich dir ein paar Sachen erklären.«
Holland nickte dankbar. Er fühlte sich in der Gesellschaft dieses freundlichen Mannes recht wohl. Eines Mannes in seinem Alter, mager und mit schütteren Haaren. Sie wanderten zusammen über die Wege, leise knirschte unter ihren Füßen der Kies, und die milde Brise strich Holland wie eine tröstende Hand über den Kopf.
»Im Grunde ist das einfach«, sagte der Aufseher. »Aber der Ordnung halber erzähle ich dir als erstes, daß natürlich der ganze Sarg mit den Toten in den Ofen geschoben wird. Wir haben eigene Verbrennungssärge. Alles aus Holz, sogar die Handgriffe. Nur, damit du nicht glaubst, wir nähmen die Toten aus dem Sarg und schöben sie einfach so in den Ofen. Aber das hast du wohl auch nicht gedacht. Die meisten haben schließlich schon mal einen amerikanischen Film gesehen.« Er lächelte.
Holland nickte und ballte wieder die Fäuste.
»Der Ofen ist recht groß. Wir haben hier zwei. Sie entwickeln, mit Hilfe von Gas, eine kräftige Flamme. Die Temperatur erreicht knapp tausend Grad.« Er lächelte in die Luft hinein, als wolle er zwei schwache Sonnenstrahlen einfangen. »Alles, was die Toten im Sarg bei sich haben, landet also im Ofen. Auch Dinge wie Schmuckstücke, die nicht verbrennen, die
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