Fremde Blicke
auseinanderzureißen.«
Bei diesem Bild kniff Sejer die Augen zusammen.
»Ich will ganz ehrlich sein«, sagte Bj0rk. »Ich hasse Ada, das will ich gar nicht verhehlen. Und ich weiß, was das Allerschlimmste wäre, das ihr jemals passieren könnte. Nämlich daß S0lvi irgendwann erwachsen genug wird, um zu begreifen, was wirklich geschehen ist. Daß sie sich eines Tages mal traut, sich Ada zu widersetzen und herzukommen, damit wir eine Vater-Tochter-Beziehung haben können, wie sie uns immer zugestanden hat. Eine richtige Beziehung. Das würde Ada fertigmachen.«
Plötzlich sah er müde aus. Draußen schepperte die Straßenbahn vorbei, und Sejer starrte noch einmal S0lvis Bild an. Er versuchte in Gedanken, seinem Leben eine andere Wendung zu geben. Er stellte sich vor, daß Elise ihn haßte, auszog, Ingrid mitnahm und sich noch dazu vor Gericht bestätigen ließ, daß er sie nie mehr wiedersehen würde. Ihm wurde schwindlig bei dieser Vorstellung. An seiner Phantasie war wirklich nichts auszusetzen.
»Mit anderen Worten«, sagte er leise. »Annie Holland war so, wie du dir S0lvi gewünscht hast?«
»Ja, irgendwie schon. Sie ist selbständig und stark. War«, fügte er plötzlich hinzu und drehte sich um. »Es ist einfach schrecklich. Ich hoffe um Eddies willen, daß ihr den Mörder bald findet, das hoffe ich wirklich.«
»Um Eddies willen? Nicht um Adas?«
»Nein«, sagte Bj0rk energisch. »Nicht um Adas.«
»Ein beredter Mann, was?«
Sejer ließ den Motor an.
»Glaubst du ihm?« fragte Skarre und zeigte nach rechts. Sejer bog hinter dem Laden ab.
»Ich weiß nicht. Aber hinter seiner verbitterten Maske steckte soviel Verzweiflung, und die wirkte echt. Sicher gibt es auch böse, berechnende Frauen. Und Frauen haben auf die Kinder ja eine Art Vorkaufsrecht. Es ist sicher bitter, davon getroffen zu werden, von Vorstellungen, gegen die man einfach nicht ankämpfen kann. Vielleicht muß es auch so sein«, fügte er nachdenklich hinzu und wich den Straßenbahnschienen aus. »Vielleicht ist es ein biologisches Phänomen, das der Sicherheit der Kinder dient. Eine untrennbare Bindung an die Mutter.«
»Mein Güte!« Skarre schüttelte den Kopf. »Du hast doch selbst ein Kind, glaubst du, was du da erzählst?«
»Nein, ich denke nur laut. Was ist mit dir?«
»Ich habe doch kein Kind.«
»Aber du hast Eltern, oder nicht?«
»Ja, Eltern habe ich. Und ich fürchte, ich bin ein unheilbares Muttersöhnchen.«
»Ich auch«, sagte Sejer nachdenklich.
EDDIE HOLLAND VERLIESS DAS BÜRO, sagte seiner Sekretärin kurz Bescheid und fuhr los. Nach etwa zwanzig Minuten glitt der grüne Toyota auf einen großen Parkplatz. Der Motor verstummte, und Holland ließ sich auf dem Sitz zurücksinken. Nach einer Weile schloß er die Augen und blieb weiterhin still sitzen. Er wartete darauf, daß irgend etwas ihn dazu brachte, kehrtzumachen und unverrichteter Dinge wieder davonzufahren. Aber nichts geschah.
Schließlich öffnete er die Augen und schaute sich um. Natürlich war es schön hier. Das Gebäude war sehr groß, es ruhte in der Landschaft wie ein großer flacher Stein, umgeben von glänzenden grünen Rasenflächen. Er starrte auf die schmalen Pfade, an denen entlang die Gräber in symmetrischen Reihen angelegt waren. Üppige Bäume mit hängenden Kronen. Trost. Stille. Nicht ein Mensch, nicht ein Geräusch. Zögernd stieg er aus dem Wagen, dann drückte er energisch die Tür ins Schloß, mit dem schwachen Wunsch, jemand möge das hören, vor die Tür des Krematoriums treten und sich nach seinen Wünschen erkundigen. Ihm die Sache erleichtern. Niemand kam.
Also wanderte er zuerst ein wenig die Wege entlang. Las einzelne Namen, registrierte aber vor allem die Jahreszahlen, schien Tote zu suchen, die nicht alt gewesen waren, vielleicht fünfzehn, so wie Annie, und er fand mehrere. Ihm ging auf, daß schon viele das gleiche durchgemacht hatten wie er, nur waren sie ein Stück weitergekommen. Sie hatten Entscheidungen treffen müssen; ob ihr Sohn oder ihre Tochter eingeäschert werden sollte, zum Beispiel, welchen Stein sie über die Urne setzen und wie sie das Grab bepflanzen wollten. Sie hatten Blumen und Musik für die Trauerfeier ausgesucht und dem Pastor erzählt, was gerade ihr Kind für ein Kind gewesen war, damit die Predigt möglichst persönlich ausfallen konnte. Seine Hände zitterten, und er steckte sie in die Taschen. Er trug einen alten Mantel mit zerfetztem Futter. In der rechten Tasche ertastete er einen Knopf,
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