Fremde Blicke
spülte den Rumpf gut durch und füllte den leeren Brustkasten mit zusammengeknülltem Zeitungspapier. Dann wurde zugenäht. Snorrason hatte großen Hunger. Er merkte, daß er erst etwas essen mußte, ehe er zur nächsten Obduktion schreiten konnte. Im Pausenraum erwarteten ihn vier Salamibrote und eine Thermoskanne Kaffee. Durch das Buckelglasfenster in der Tür sah er plötzlich eine Gestalt. Die Gestalt blieb einen Moment lang bewegungslos stehen und sah aus, als ob sie lieber wieder kehrtgemacht hätte. Snorrason streifte die Handschuhe ab und lächelte. Er kannte nicht viele, die so hoch aufragten.
Sejer mußte beim Eintreten den Kopf einziehen. Interessiert blickte er zu der Bahre hinüber, auf der Annie nun unter einem Laken lag. Über seine Schuhe hatte er die obligatorischen Plastiküberzieher geschoben, die ausgebeult und pastellfarben waren und wirklich komisch aussahen.
»Ich bin gerade fertig«, sagte Snorrason mit vielsagendem Nicken. »Da liegt sie.«
Sejer musterte die Mumie auf der Bahre mit größtem Interesse.
»Da habe ich ja Glück gehabt.«
»Das ist noch die Frage.«
Der Arzt wusch sich vom Ellbogen abwärts die Hände, schrubbte Haut und Nägel mehrere Minuten lang mit einer harten Bürste und wusch sich dann noch einmal ausgiebig. Dann trocknete er sich mit Papier aus einem Behälter an der Wand ab, zog unter dem Tisch einen Stuhl hervor und schob ihn zum Hauptkommissar hinüber.
»Da war nicht viel zu finden.«
»Jetzt nimm mir doch nicht gleich allen Mut. Irgend etwas muß doch dagewesen sein!«
Snorrason verdrängte seinen Hunger und setzte sich.
»Ich kann ja nicht beurteilen, was diese Funde wert sind. Normalerweise finden wir ja irgend etwas. Sie aber wirkt ganz unberührt.«
»Vermutlich war sie flink und stark. Er hat sie überrascht. Und danach ihre Kleider weggenommen.«
»Wahrscheinlich. Aber sie ist nicht vergewaltigt worden. Sie ist nicht vergewaltigt oder mißhandelt worden. Sie ist ganz einfach ertrunken. Danach ist sie sehr sorgfältig ausgezogen worden, kein Knopf fehlt, keine Naht ist eingerissen. Vielleicht wollte er ja, wurde aber durch irgend etwas erschreckt. Oder vielleicht hat ihn sein Mut oder seine Potenz oder was weiß ich im Stich gelassen.«
»Vielleicht will er ja auch nur, daß wir ihn für einen Sexualverbrecher halten.«
»Warum sollte er das wollen?«
»Um sein eigentliches Motiv zu vertuschen. Und das bedeutet, daß hinter allem ein Grund stecken kann, den wir feststellen müssen. Daß es sich nicht um eine Impulshandlung irgendeiner
verstörten Person handelt. Außerdem muß sie freiwillig mit ihm gegangen sein. Sie muß ihn also gekannt oder er muß sie sehr beeindruckt haben. Und wenn ich das richtig verstanden habe, war es nicht leicht, Annie Holland zu beeindrucken.« Er öffnete einen Knopf an seiner Jacke und ließ sich auf dem Stuhl zurücksinken. »Na los. Was hast du gefunden?«
»Fünfzehn Jahre altes Mädchen«, sagte Snorrason feierlich wie ein Pastor. »Eins vierundsiebzig groß, fünfundsechzig Kilo, minimales Fett, hartes Training hat das Fett zumeist in Muskeln verwandelt. Vielleicht war das Training zu hart für eine Fünfzehnjährige. In dem Alter sollten sie es etwas ruhiger angehen, aber das ist wohl nicht leicht, wenn sie erst mal losgelegt haben. Also - viele Muskeln, mehr als viele Jungen in dem Alter. Sehr große Lungenkapazität, deshalb hat sie das Bewußtsein wohl erst nach einer langen Weile verloren.«
Sejer betrachtete den abgenutzten Linoleumboden und stellte fest, daß er in seinem Badezimmer zu Hause ein ähnliches Muster hatte.
»Wie lange dauert das eigentlich?« fragte er leise. »Wie lange braucht ein erwachsener Mensch zum Ertrinken?«
»Zwischen zwei und zehn Minuten, kommt auf die Kondition an. Wenn ihre so gut war, wie es aussieht, dann hat es hier wohl eher zehn gedauert.«
An die zehn Minuten, dachte Sejer. Mal sechzig macht das sechshundert Sekunden. Was man in zehn Minuten alles schaffen kann ... duschen, essen.
»Sie hat eine vergrößerte Lunge. Sie hat wie die meisten reagiert, zuerst hat sie heftig Luft geholt, als sie untergegangen ist, wir nennen das >respiration de surprisec. Dann hat sie den Mund zusammengekniffen, bis sie das Bewußtsein verlor, dabei ist eine begrenzte Wassermenge in ihre Lunge eingedrungen. Ich habe im Gehirn und im Knochenmark übrigens Diatomeen gefunden, eine Art Kieselalgen. Nicht viel zwar, aber dieser Weiher ist ja auch nicht besonders verdreckt.
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