Fremde Blicke
zumeist jammernd und kränkelnd im Bett gelegen, mit ausgefransten Nerven und einer ständig wachsenden Batterie von Beruhigungsmitteln in Reichweite. Sie konnte grelles Licht und laute Geräusche nicht ertragen. Die Kinder durften keinen Krach machen. Halvor hat wirklich schon einige Runden im Ring hinter sich, dachte Sejer. Ziemliche Leistung, daß er eine feste Arbeit hat und noch dazu seine Großmutter pflegt.
Halvor versuchte sein Glück mit allerlei Liedtiteln, die ihm gerade einfielen. Immer wieder erschienen die Worte »Access denied«, so wie eine Fliege, die man erschlagen zu haben glaubt, die aber immer wieder angeschwirrt kommt. Er war alle möglichen Zahlencodes durchgegangen. Alle Geburtstage, sogar die Rahmennummer ihres Fahrrades, die auf dem Reserveschlüssel stand, den er für sie in einem Krug aufbewahrt hatte. Sie hatte einen DBS Intruder und hatte den einen Schlüssel unbedingt bei ihm deponieren wollen. Er mußte ihn Eddie zurückgeben, das fiel ihm ein, und er gab »Intruder« ein.
Die Alkoholprobleme des Vaters und die schwachen Nerven der Mutter hatten das Familienleben über Jahre hinweg geprägt. Halvor und sein Bruder waren durch das Haus geirrt und hatten sich Essen und Trinken zusammengesucht, falls etwas vorhanden war. Der Vater saß in der Regel in den Kneipen der Stadt, zuerst vertrank er sein Gehalt, später die Sozialhilfe. Einzelne nette Nachbarn halfen, wenn sie konnten, in aller Heimlichkeit, hinter dem Rücken des Vaters. Der wurde im Laufe der Jahre immer gewalttätiger. Immer wieder hagelte es Ohrfeigen, die sich durchaus auch zu Fausthieben steigern konnten. Die Jungen suchten beieinander Zuflucht und wurden immer verschlossener. Immer dünner und schweigsamer.
Annie hat sich sicher keinen Zifferncode ausgedacht, überlegte Halvor. Sie als Mädchen wollte bestimmt etwas Romantischeres. Am wahrscheinlichsten war eine Kombination aus Wörtern, möglicherweise mit tieferer symbolischer Bedeutung. Oder ein Name, natürlich, aber die meisten hatte er jetzt durch, sogar den ihrer Mutter, von dem er wußte, daß sie sich nie im Leben dafür entschieden hätte. Er hatte auch den Namen von S0lvis Vater und den von seinem Hund eingegeben, Achilles. »Access denied.«
Er hatte schmale Hände mit dünnen Fingern. Keine Waffe also gegen einen wütenden unkontrollierten Betrunkenen am Rande des Abgrunds. Es mußte schon schlimm gewesen sein, sich gegen den Vater wehren zu müssen. Die beiden Brüder tauchten in regelmäßigen Abständen mit blauen Augen und Wunden beim Notarzt auf, mit dem berühmten Dackelblick, der sagte: Ich bin lieb. Du darfst mir nichts tun. In der Regel hatten sie sich auf der Straße mit anderen Jungs gerauft, waren auf der Treppe gestolpert oder mit dem Fahrrad verunglückt, sie schützten ihren Vater. Das Leben zu Hause war mühsam, aber sicher. Die Alternative waren Kinderheim oder Pflegefamilien und die Möglichkeit, voneinander getrennt zu werden. Halvor war in der Schule immer wieder ohnmächtig geworden, Ursache: Unterernährung und Schlafmangel. Er war der Ältere, er überließ dem Kleinen den Großteil des Essens.
Halvor ging zu Büchern über, von denen er wußte, daß Annie sie gelesen hatte. Titel, Personen, Dinge, die sie gesagt hatten. Er hatte Zeit. Während dieser Arbeit hatte er das Gefühl, Annie sehr nahe zu sein. Den Code zu finden würde ihn zu Annie zurückführen. Er stellte sich vor, daß sie ihn bei seiner Suche beobachtete, vielleicht würde sie ihm ein Zeichen geben, wenn er es lange genug versucht hatte. Diese Mitteilung würde in Form einer Erinnerung kommen, meinte er. Etwas, das sie gesagt hatte, das er in seinem Gehirn gespeichert hatte und das sich offenbaren würde, wenn er nur erst tief genug eingedrungen war. Immer wieder fielen ihm neue Dinge ein. Er hatte das Gefühl, ein hauchdünnes Spinngewebe nach dem anderen beiseite zu ziehen, und hinter jedem verbarg sich etwas anderes, ein Zeltausflug, eine Radtour, ein Kinobesuch, von denen es so viele gegeben hatte. Und Annies Lachen. Ein tiefes, fast burschikoses Lachen. Ihre starke Faust, mit der sie ihm in den Rücken stieß und sagte: Jetzt hör aber auf, Halvor! Das sagte sie auf eine ganz besondere Weise. Liebevoll und tadelnd zugleich. Andere Formen von Liebkosungen waren selten.
Jedesmal, wenn das Jugendamt seinen Besuch ankündigte, schluckte der Vater Antabus, putzte und räumte auf und nahm den Kleinen auf den Schoß. Er war sehr stark und konnte ein absolut solides
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