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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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unangenehme Ereignisse. Er fragte sich, wie ihre Codes wohl aussehen mochten und wer sie festlegte.
    Sejer kam zurück und nickte zum Bildschirm hinüber. »Das ist nur ein Spielzeug. Ich benutze ihn nicht so oft.«
    »Warum nicht?«
    »Der steht irgendwie nicht auf meiner Seite.«
    »Natürlich nicht. Der kann sich doch für keine Seite entscheiden, deshalb ist auf ihn ja gerade Verlaß.«
    »Sie haben auch so einen, nicht wahr?«
    »Nein, ich habe einen Mac. Ich benutze ihn für Spiele. Annie und ich haben zusammen gespielt.« Halvor wurde plötzlich ein wenig zugänglicher und lächelte sein halbes Lächeln. »Sie hat immer gewonnen. Man kann sich den Schnee aussuchen, groboder feinkörnig, trocken oder feucht, Temperatur, Skilänge und -gewicht, Windverhältnisse, alles. Annie hat immer die schwierigste Tour ausgesucht, bei Deadquins und Stonies. Sie legte mitten in der Nacht bei wildem Sturm auf feuchtem Schnee los, mit den längsten Skiern, und ich hatte keine Chance.«
    Sejer blickte ihn verständnislos an und schüttelte den Kopf. Er füllte zwei Plastikbecher mit Cola und setzte sich wieder.
    »Kennen Sie Knut Jensvoll?«
    »Den Trainer? Ich weiß, wer das ist. Ich hab Annie manchmal zu den Spielen begleitet.«
    »Mögen Sie ihn?«
    Schulterzucken.
    »Nicht gerade ein liebenswürdiger Mann oder was?«
    »Er hat sich ein bißchen zu sehr an die Mädchen rangemacht, finde ich.«
    »Auch an Annie?«
    »Soll das ein Witz sein?«
    »Ich mache so gut wie nie Witze. Ich frage nur.«
    »Er hätte sich das nie getraut. So was hat sie sich nicht gefallen lassen.«
    »In der Hinsicht war sie also hart?«
    »Ja.«
    »Aber das verstehe ich nicht, Halvor.« Sejer schob seinen Becher beiseite und beugte sich über den Tisch. »Alle reden so nett über Annie, darüber, wie stark und selbständig und sportlich sie war. Wie wenig sie sich für ihr Aussehen interessiert hat, daß sie fast unzugänglich war. >So was hat sie sich nicht gefallen lassen.< Und doch ist sie mit irgendwem tief in den Wald hinein und an einen einsamen See gegangen. Vermutlich freiwillig. Und dann«, er senkte die Stimme, »hat sie sich umbringen lassen.«
    Halvor blickte ihn entsetzt an, so als ginge das Absurde an der Situation ihm erst jetzt in seinem ganzen Grauen auf. »Irgendwer hatte also Macht über sie.« »Aber wer kann denn Macht über Annie gehabt haben?«
    »Das weiß ich nicht. Ich war es jedenfalls nicht.«
    Sejer trank Cola. »Es ist wirklich ärgerlich, daß sie nichts hinterlassen hat. Ein Tagebuch zum Beispiel.«
    Halvor senkte seine Nase in den Becher und trank lange.
    »Aber ist das denn wirklich möglich?« sagte Sejer dann. »Daß jemand eine Art Macht über sie hatte? Irgendwer, dem sie sich nicht zu widersetzen wagte? Kann Annie in etwas Gefährliches verwickelt gewesen sein, aus dem sie nicht mehr herauskam? Kann irgendwer sie auf irgendeine Weise unter Druck gesetzt haben?«
    »Annie war immer anständig. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie etwas angestellt haben soll.«
    »Man kann allerlei anstellen und trotzdem anständig sein«, sagte Sejer nachdenklich. »Eine einzelne Handlung sagt nicht viel über einen Menschen aus.«
    Halvor merkte sich gerade diese Worte und prägte sie sich ein.
    »Gibt es in eurem kleinen Dorf überhaupt Drogen?«
    »Aber sicher. Schon seit Jahren. Ihr macht doch in regelmäßigen Abständen in der Kneipe unten im Zentrum Razzia. Aber das kann nichts mit Annie zu tun haben. Sie ist nie dagewesen. Sie hat ja kaum je im Kiosk nebenan eingekauft.«
    »Halvor«, sagte Sejer eindringlich. »Annie war ein stilles, zurückhaltendes Mädchen, das in Ruhe gelassen werden wollte. Aber überlegen Sie mal: Hatten Sie den Eindruck, daß sie sich vor irgend etwas gefürchtet hat?«
    »Gefürchtet wohl nicht. Sie war schon - verschlossen. Manchmal fast wütend, dann wieder resigniert. Aber ich habe Annie auch mal wirklich verängstigt gesehen. Das hat mit dieser Sache nichts zu tun, es ist mir nur gerade eingefallen.« Er vergaß seine Zurückhaltung und wurde redselig. »Ihre Eltern waren mit S0lvi in Trondheim, bei der Tante. Annie und ich waren allein zu Hause. Ich wollte da übernachten. Das war letztes Jahr im Frühling. Zuerst haben wir eine Radtour gemacht, dann haben wir bis spät in die Nacht Platten gehört. Es war sehr mildes Wetter, und wir wollten im Garten im Zelt übernachten. Wir haben alles vorbereitet, dann sind wir ins Haus gegangen, um uns die Zähne zu putzen. Ich habe mich als erster

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