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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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zugänglich, obwohl Sie ihr nahegestanden haben. Hat sie nie etwas erwähnt?«
    »Nein.«
    Sejers Stimme war nicht unfreundlich, aber er sprach einstudiert langsam und deutlich, was seiner grauen Gestalt ziemlich viel Autorität verlieh.
    »Erzählen Sie von Ihrer Arbeit. Was machen Sie in der Fabrik?«
    »Wir wechseln uns ab. Eine Woche packen wir, in der nächsten stehen wir an den Maschinen, und in der übernächsten fahren wir aus.«
    »Gefällt Ihnen das?«
    »Man braucht nicht nachzudenken«, sagte Halvor leise.
    »Nicht nachzudenken?«
    »Über die Arbeit. Die läuft von selber, und man kann an andere Dinge denken.«
    »Woran zum Beispiel?«
    »An alles andere«, sagte Halvor mürrisch.
    Seine Stimme klang abweisend. Vielleicht wußte er das selbst nicht, aber es war eine Angewohnheit aus seiner Kindheit, als Schläge und Anwürfe ihn gezwungen hatten, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen.
    »Was machen Sie denn sonst den ganzen Tag? In der Zeit, die Sie bisher mit Annie verbracht haben?«
    »Versuche herauszufinden, was passiert ist«, rutschte es aus ihm heraus.
    »Und haben Sie einen Vorschlag?«
    »Ich suche in meinen Erinnerungen.«
    »Ich bin nicht sicher, daß Sie mir alles, was Sie wissen, erzählen.«
    »Ich habe Annie nichts getan. Sie glauben, daß ich das war, oder?«
    »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Sie müssen mir helfen, Halvor. Aber es sieht so aus, als ob Annie eine Art Persönlichkeitsveränderung durchgemacht hätte. Stimmen Sie mir da zu?«
    »Ja.«
    »Den Mechanismus, der dahintersteckt, kennen wir zum Teil. Einige Faktoren sind immer dieselben. Menschen können sich zum Beispiel dramatisch verändern, wenn sie jemanden verlieren, der ihnen nahegestanden hat. Oder wenn ihnen ein Unglück passiert oder sie krank werden. Junge Menschen, die wir immer als ordentlich, arbeitsam und fleißig gekannt haben, können vollständig gleichgültig werden, auch wenn sie physisch
    wiederhergestellt sind. Auch Drogenkonsum kann zu Veränderung führen.    Oder    brutale Überfälle,    eine
    Vergewaltigung zum Beispiel.«
    »Ist Annie vergewaltigt worden?«
    Sejer gab keine Antwort. »Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor?«
    »Ich glaube, sie hatte ein Geheimnis«, sagte Halvor schließlich.
    »Ein Geheimnis? Reden Sie weiter.«
    »Etwas, das ihr Leben beeinflußt hat. Das sie nicht verdrängen konnte.«
    »Und nun wollen Sie mir sagen, Sie haben keine Ahnung, was das gewesen sein kann?«
    »Richtig. Ich habe keine Ahnung.«
    »Wer hat, außer Ihnen, Annie am besten gekannt?«
    »Ihr Vater.«
    »Aber die haben doch nicht sehr viel miteinander geredet?«
    »Man kann sich doch trotzdem kennen.«
    »Na gut. Wenn also irgendwer ihr Schweigen durchschauen kann, dann Eddie?«
    »Die Frage ist aber, ob Sie ihn dazu bringen können, etwas zu sagen. Lassen Sie ihn lieber allein herkommen, ohne Ada. Dann erzählt er mehr.«
    Sejer nickte. »Und sind Sie je mit Axel Bj0rk zusammengetroffen?«
    »Mit S0lvis Vater? Einmal. Ich habe ihn zusammen mit den Mädchen besucht.«
    »Wie finden Sie ihn?«
    »Sympathisch eigentlich. Er hat uns geradezu angefleht, ihn wieder zu besuchen. Sah total unglücklich aus, als wir gegangen sind. Aber Ada hat sich quergelegt, und S0lvi mußte ihn in aller Heimlichkeit besuchen. Und dann hatte sie keinen Bock mehr, und Ada hatte endlich ihren Willen.«
    »Was ist S0lvi für eine Frau?«
    »Da gibt’s nicht viel zu sagen. Sie haben sicher alles gesehen, das geht schnell.«
    Sejer stützte die Stirn in die Hände, um sein Gesicht zu verbergen. »Was halten Sie von einer Cola? Die Luft hier ist ganz schön trocken. Nur Synthetik und Glasfasern und anderes Elend.«
    Halvor nickte und wirkte etwas weniger krampfhaft. Aber dann riß er sich wieder zusammen. Vielleicht war das ja Taktik, dieses erste kleine Gefühl der Sympathie für den grauhaarigen Hauptkommissar. Der war sicher nicht ohne Grund so nett. Er hatte bestimmt Kurse gemacht, Verhörtechnik und Psychologie studiert. Wußte, wie er eine Spalte finden und einen Keil hineintreiben konnte. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß, und Halvor nutzte die Gelegenheit, um die Beine auszustrecken. Er trat ans Fenster und schaute hinaus, sah aber nur die graue Betonwand des Gerichtsgebäudes und einige abgestellte Streifenwagen. Auf dem Schreibtisch stand ein Computer, ein amerikanischer Compaq. Vielleicht hatten sie sich damit über seine Kindheit informiert. Vielleicht hatten sie Codes, genau wie Annie, Informationen über

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