Fremde Blicke
Totenstille, er hörte nicht einmal mehr die Bäume rauschen. Aber dann, einige Minuten später, hörte er, wie ein Auto losfuhr.
KNUT JENSVOLL HÖRTE DAS AUTO nicht, weil er gerade mit seiner Bohrmaschine beschäftigt war. Er wollte ein Trockenregal anbringen, auf dem er nach dem Training seine feuchten Turnschuhe abstellen konnte. Als er eine Pause einlegte, hörte er die Türglocke. Er warf einen raschen Blick aus dem Fenster und sah auf der obersten Treppenstufe Sejers hoch aufragende Gestalt. Er hatte sich schon gedacht, daß sie kommen würden. Er mußte sich noch auf diese Begegnung vorbereiten, mußte Kleidung und Frisur ordnen. In Gedanken war er schon alle möglichen Fragen durchgegangen. Er glaubte, vorbereitet zu sein.
Eine einzige Frage schwirrte durch Jensvolls Gedanken. Ob sie von der Vergewaltigung wußten. Aber sicher waren sie deshalb gekommen. Einmal Schurke, immer Schurke, dieses System kannte er nur zu gut. Er wechselte zu einem angespannten Gesichtsausdruck über, dachte aber daran, daß das ihren Verdacht erwecken könnte, deshalb riß er sich zusammen und versuchte zu lächeln. Dann fiel ihm ein, daß Annie tot war, und deshalb holte er wieder die andere Maske hervor.
»Polizei. Dürfen wir eintreten?«
Jensvoll nickte. »Ich mache nur schnell die Badezimmertür zu.«
Er winkte sie ins Haus, verschwand für einen Moment und stand dann wieder vor ihnen. Schaute besorgt zu, wie Skarre ein Notizbuch aus der Jacke fischte. Jensvoll war älter, als sie angenommen hatten, an die fünfzig und wohlgenährt. Aber seine Kilos waren vorteilhaft verteilt, sein Körper war fest und hart, gesund und proper, mit frischem Teint, einer vollen roten Mähne und einem feschen gepflegten Schnurrbart.
»Sie kommen wegen Annie, nehme ich an?« fragte er.
Sejer nickte.
»Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht so geschockt. Ich kannte sie doch gut, ich glaube, das darf ich behaupten. Aber sie ist ja schon vor einer ganzen Weile aus dem Club ausgetreten. Das war wirklich eine Tragödie, niemand ist so gut wie sie. Wir mußten sie durch ein ziemliches Trampel ersetzen, das sich immer duckt, wenn der Ball kommt. Aber immerhin füllt sie das halbe Tor aus.«
Er unterbrach seinen Wortschwall und errötete leicht.
»Ja, das ist wirklich eine Tragödie«, sagte Sejer, ein wenig säuerlicher als geplant. »Haben Sie sie lange nicht mehr gesehen?«
»Wie gesagt, sie ist ja aus dem Verein ausgetreten. Im letzten Herbst. Im November glaube ich.« Er erwiderte Sejers Blick.
»Verzeihen Sie, aber das klingt seltsam, finde ich. Sie wohnte doch nur zweihundert Meter von Ihnen entfernt?«
»Ja, nein, natürlich bin ich ab und zu auf der Straße an ihr vorbeigefahren. Ich dachte, Sie wollten wissen, wann ich zuletzt wirklich etwas mit ihr zu tun gehabt habe. So richtig, beim Training. Aber ich habe sie gesehen, natürlich habe ich das. Im
Dorf unten, vielleicht im Laden.«
»Dann frage ich: Wann haben Sie Annie zuletzt gesehen?«
Jensvoll mußte überlegen. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich mich daran noch genau erinnern kann. Es ist auf jeden Fall eine ganze Weile her.«
»Wir haben es nicht eilig.«
»Vor zwei, drei Wochen vielleicht. Ich glaube, das war auf der Post.«
»Haben Sie mit ihr geredet?«
»Wir haben uns nur kurz begrüßt. Sie war nicht mehr besonders redselig.«
»Warum ist Annie aus dem Verein ausgetreten?«
»Ja, wenn ich das wüßte!« Jensvoll zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte, ich habe ihr ziemlich zugesetzt, um ihr das auszureden, aber das hat nichts genützt. Sie hatte es satt. Ja, eigentlich glaube ich das nicht, aber das hat sie nun einmal gesagt. Wollte lieber laufen, sagte sie. Und das hat sie wohl auch getan, zu jeder Tageszeit. Ich habe sie oft im Vorbeifahren gesehen. Volles Tempo, lange Beine, teure Laufschuhe. Holland hat bei dem Mädel wirklich an nichts gespart.«
Er wartete immer noch, daß seine Besucher endlich die Katze aus dem Sack ließen, und er machte sich keinerlei Illusion, daß ihm das vielleicht erspart bleiben könnte.
»Wohnen Sie allein hier?«
»Ich bin seit einiger Zeit geschieden. Meine Frau hat die Kinder mitgenommen, und deshalb bin ich jetzt allein und damit auch durchaus zufrieden. Wenn ich Arbeit und Training erledigt habe, bleibt mir ohnehin nicht mehr viel Zeit. Ich trainiere auch die Jungenmannschaft und spiele bei den Senioren. Renne den halben Tag in die Dusche raus und ein.«
»Sie haben ihr nicht geglaubt, daß sie den Handball satt
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