Fremde Blicke
Akzent«, sagte die Großmutter ärgerlich. »Ich mag es nicht, wenn Leute so aussehen und so sprechen.«
»Aber er kommt doch aus Bergen«, sagte Halvor und schlürfte Milch und Zucker vom Löffel. »Da ist er geboren und aufgewachsen. Seine Eltern sind aus Tansania.«
»Es wäre richtiger, wenn er seine eigene Sprache sprechen würde.«
»Das ist doch seine eigene Sprache. Und wenn er Suaheli sprechen würde, dann würdest du kein Wort verstehen.«
»Aber ich kriege jedesmal einen Schrecken, wenn er den Mund aufmacht!«
Auf diese Weise redeten sie miteinander. In der Regel einigten sie sich. Die Großmutter ließ ihre neuste Besorgnis los, und Halvor fing sie auf, leicht und einfach wie ein mißlungenes Papierflugzeug, das nur ordentlich gefaltet werden mußte.
Der Wagen näherte sich der Auffahrt. Aus der Entfernung sah es wenig einladend aus. Eine Luftaufnahme hätte gezeigt, wie einsam das Haus stand, so als wolle es sich vor dem übrigen Dorf verstecken, ein Stück von der Straße entfernt, zum Teil von Gestrüpp und Wald versteckt. Kleine Fenster hoch oben in der Wand. Verwitterte graue Täfelung, große Teile des Hofs von Unkraut überwuchert.
Durch das Wohnzimmerfenster sah Halvor schwaches Licht. Er hörte den Wagen und bekleckerte sein Kinn mit Milch. Die Scheinwerfer zerrissen das Halbdunkel des Wohnzimmers. Gleich darauf standen sie in der Tür und sahen ihn an.
»Wir müssen mit Ihnen sprechen«, sagte Sejer freundlich. »Sie müssen mit uns kommen, aber Sie können noch fertig essen.«
Halvor hatte keinen Appetit mehr. Er hatte auch nicht geglaubt, so billig davonzukommen, deshalb ging er ruhig in die
Küche und spülte die Schüssel sorgfältig aus. Danach lief er schnell in sein Zimmer und schaltete den Computer aus. Murmelte seiner Großmutter etwas ins Ohr und folgte den Männern. Er mußte allein auf dem Rücksitz Platz nehmen, und das gefiel ihm nicht. Es erinnerte ihn an etwas.
»Ich versuche, mir ein Bild von Annie zu machen«, sagte Sejer als Einleitung. »Davon, wer sie war und wie sie gelebt hat. Und ich möchte, daß Sie mir alles über sie erzählen. Was sie gemacht und gesagt hat, wenn ihr zusammen wart, alle Gedanken und Vorstellungen, die Sie sich sicher gemacht haben. Warum hat sie sich von allen zurückgezogen, und was ist am Schlangenweiher passiert? Alles, Halvor.«
»Keine Ahnung.«
»Sie müssen sich doch etwas gedacht haben.«
»Ich habe sehr viel gedacht, aber ich komme nicht weiter.«
Schweigen. Halvor betrachtete Sejers Schreibunterlage, eine Weltkarte, er fand die Stelle, wo sein Wohnort so ungefähr liegen mußte.
»Sie waren ein wichtiger Teil von Annies Landschaft«, fügte Sejer hinzu. »Das ist nämlich jetzt meine Aufgabe. Eine Karte von der Landschaft zu zeichnen, in der sie sich bewegt hat.«
»Das machen Sie also«, sagte Halvor trocken. »Sie zeichnen Karten?«
»Haben Sie vielleicht eine bessere Idee?«
»Nein«, sagte Halvor schnell.
»Ihr Vater ist tot«, sagte Sejer plötzlich.
Er musterte das junge Gesicht, und Halvor spürte seine Anwesenheit wie eine Spannung im Zimmer. Die ihm alle Kraft nahm, vor allem bei Blickkontakt. Deshalb hielt er den Kopf gesenkt.
»Er hat sich umgebracht. Aber Sie haben gesagt, Ihre Eltern wären geschieden. Fällt es Ihnen so schwer, das zu sagen?«
»Das war schon in Ordnung.« »Warum haben Sie mir die Wahrheit verheimlicht?«
»Das ist schließlich kein Grund zum Prahlen.«
»Ich verstehe. Können Sie mir sagen, was Sie mit Annie vorhatten«, fragte Sejer dann. »Sie haben doch an dem Tag, an dem sie ermordet wurde, bei Horgens Laden auf sie gewartet?«
Halvors Überraschung sah sehr echt aus.
»Entschuldigen Sie, aber jetzt liegen Sie wirklich weit daneben.«
»Ein Motorradfahrer ist zu einem wichtigen Zeitpunkt in der Nähe gesehen worden. Und Sie waren mit dem Motorrad unterwegs. Sie können es also gewesen sein.«
»Dann sollte der Typ dringend zum Augenarzt gehen.«
»Ist das alles, was Sie zu sagen haben?«
»Ja.«
»Wir werden sehen. Möchten Sie etwas trinken?«
Schweigen. Halvor horchte. Irgendwo im Haus lachte jemand, es kam ihm unwirklich vor. Annie war tot, aber die Leute lärmten und führten sich auf, als ob nichts passiert wäre.
»Hatten Sie den Eindruck, daß Annie nicht ganz gesund war?«
»Hä?«
»Hat sie zum Beispiel über Schmerzen geklagt?«
»Niemand war so gesund wie Annie. Was sollte sie gehabt haben?«
»Bestimmte Informationen sind für Sie leider noch nicht
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