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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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Auftreten hinlegen, worauf die erschrockenen Hühner vom Jugendamt sofort den Rückzug antraten. Die Mutter lächelte schwach unter ihrer Decke hervor. Solange sie krank war, hatte der arme Torkel die ganze Verantwortung zu tragen, das mußten sie doch verstehen, und die Kinder waren in einem schwierigen Alter. Der Besuch kehrte unverrichteter Dinge in sein Büro zurück. Alle hatten eine Chance verdient. Halvor war fast immer mit der Mutter und dem kleinen Bruder beschäftigt. Er konnte fast nie seine Aufgaben machen, hatte aber trotzdem gute Noten. Er war also offenbar begabt. Der Vater verlor die Wirklichkeit immer mehr aus dem Griff. Eines Nachts stürzte er ins Schlafzimmer der beiden Jungen. In dieser Nacht lag der Kleine, wie so oft, in Halvors Bett. Der Vater hatte ein Messer. Halvor sah es in seiner Hand blitzen. Unten hörten sie die Mutter ängstlich jammern. Halvor spürte plötzlich einen stechenden Schmerz, als das Messer seine Schläfe traf, er rollte sich auf die Seite, und das Messer durchschnitt seine Wange und seinen Mundwinkel und traf dann auf einen Backenzahn auf. Plötzlich konnten die Augen des Vaters die Wirklichkeit wieder sehen, er sah das Blut auf dem Kissen und hörte den Kleinen schreien. Er stürzte die Treppe hinunter und auf den Hof hinaus. Versteckte sich im Holzschuppen. Die Tür fiel ins Schloß.
    Halvor kratzte sich mit einem scharfen Fingernagel im Mundwinkel und dachte plötzlich an Annies Begeisterung für das Buch Sofies Welt. Und da ihr voller Name Annie Sofie gewesen war, gab er diesen Titel ein. Er hielt das für einen ziemlich pfiffigen Code. Aber leider hatte er sich geirrt, es passierte nichts. Er machte weiter. Sein Magen knurrte, und einsetzende Kopfschmerzen pochten hinter seiner Schläfe.
    Sejer und Skarre schlossen das Büro ab und gingen über den Flur. In Bjerkeli hatte es den Jungen gut gefallen. Halvor hatte sich an einen katholischen Priester angeschlossen, der das Heim ab und zu besuchte. Dann hatte er die Grundschule abgeschlossen. Der Kleine war zu Pflegeeltern gekommen, und von da an war Halvor allein. Schließlich war er zu seiner Großmutter gezogen. Er war daran gewöhnt, sich um andere zu kümmern. Ohne diese Möglichkeit kam er sich überflüssig vor.
    »Seltsam, daß trotz allem etwas aus solchen Kindern werden
    kann«, sagte Skarre kopfschüttelnd.
    »Wir wissen vielleicht nicht genau, was Halvor geworden ist«, sagte Sejer nüchtern. »Das müssen wir noch feststellen.«
    Skarre nickte verlegen und klapperte mit den Autoschlüsseln.
    Halvor merkte, daß seine Kopfschmerzen immer schlimmer wurden. Endlich war es Abend geworden. Seine Großmutter hatte lange allein gesessen, und nun taten ihr die Augen weh, weil sie die ganze Zeit den flimmernden Fernsehschirm angestarrt hatte. Er machte noch ein wenig weiter, wußte aber eigentlich nicht mehr, ob er überhaupt noch eine Chance hatte, Annies Code zu knacken, und was er finden würde, wenn die Datei sich plötzlich öffnete. Vielleicht hatte sie ein Geheimnis. Er mußte es einfach herausfinden, und schließlich hatte er ja Zeit. Endlich stand er fast widerwillig auf, um etwas zu essen. Schaltete den Computer nicht aus, ging in die Küche. Die Großmutter sah sich eine Dokumentation über den amerikanischen Bürgerkrieg an. Sie hielt zu denen in den blauen Uniformen, die sahen fescher aus. Die mit den grauen sprachen außerdem mit einem scheußlichen Akzent, fand sie.
    Skarre fuhr langsam und behutsam, er hatte endlich begriffen, daß sein Chef hohe Geschwindigkeiten haßte, und die Straße war ungeheuer schlecht in Schuß. Durch einen Skilift ruiniert, schmal und kurvenreich. Es war noch kühl, der Sommer schien irgendwo unter fadenscheinigen Vorwänden aufgehalten worden zu sein. Heimgekehrte Vögel saßen reuevoll unter den Büschen. Die Leute streuten kein Futter mehr aus. Der Schnee war schließlich geschmolzen. Er hatte eine trockene harte Kruste hinterlassen, die keine Spuren zeigte.
    Halvor schüttete Cornflakes in eine Schüssel und streute großzügig Zucker darüber. Er trug die Schüssel ins Wohnzimmer und nahm einen gewebten Läufer vom Tisch, um ihn nicht zu beschmutzen. Der Löffel zitterte in seiner Hand. Sein Blutzucker war ganz unten, und er hatte Ohrensausen.
    »Unten in der COOP arbeitet jetzt ein Neger«, sagte die
    Großmutter plötzlich. »Hast du den gesehen, Halvor?«
    »Das heißt jetzt Kiwi. COOP gibt es nicht mehr. Ja, er heißt Philipp.«
    »Der spricht mit Bergenser

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