Fremde Blicke
hingelegt. Annie kam mir nach, hockte sich hin und öffnete ihren Schlafsack. Und da lag eine Kreuzotter drin. Eine riesige schwarze Kreuzotter hatte sich im Schlafsack zusammengerollt. Wir stürzten aus dem Zelt, und ich holte den Nachbarn von gegenüber. Er meinte, die Schlange sei in den Schlafsack gekrochen, um sich aufzuwärmen; am Ende hat er sie getötet. Annie hat sich vor Angst erbrochen. Und von da an mußte ich immer ihren Schlafsack ausschütteln, wenn wir zelten waren.«
»Eine Kreuzotter im Schlafsack?« Sejer schauderte und dachte an eigene Zelttouren vor vielen Jahren.
»Auf dem Fagerlundsas wimmelt es nur so von Schlangen wegen der vielen Steine. Wir legen Butter aus und erwischen ziemlich viele.«
»Wieso denn Butter?«
»Die fressen so viel davon, bis sie bewegungsunfähig sind. Und dann brauchen wir sie nur noch einzusammeln.«
»Und dann habt ihr noch die Seeschlange im Fjord.« Sejer lächelte.
»Genau«, Halvor nickte, »ich habe sie selber gesehen. Sie zeigt sich nur sehr selten, bei ganz besonderen Windverhältnissen. Eigentlich ist sie ein Felsen tief unter der Wasseroberfläche, aber wenn der Wind von Landwind in Seewind umschlägt, dann braust das Wasser drei- oder viermal kräftig auf. Danach ist alles wieder still. Das ist eigentlich seltsam. Alle wissen, daß es ein Felsen ist, aber wenn man allein da draußen ist, dann glaubt man sofort, daß da irgend etwas aus der Tiefe aufsteigt. Beim erstenmal bin ich wie ein Blöder losgerudert und habe mich nicht ein einziges Mal umgesehen.«
»Und Ihnen fällt wirklich niemand aus Annies Umgebung ein, der ihr übel gesonnen war?«
»Kein einziger«, sagte Halvor mit fester Stimme. »Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, und ich begreife es nicht. Es muß ein Verrückter gewesen sein.«
Ja, dachte er, es kann ein Verrückter gewesen sein. Er fuhr Halvor nach Hause, hielt ganz dicht vor der Treppe.
»Du mußt sicher früh raus«, sagte er mit freundlicher Stimme. »Es ist schon spät.«
»Das schaffe ich schon«, sagte Halvor. Er mochte Sejer leiden - und auch wieder nicht. Das war nicht leicht.
Er sprang aus dem Wagen, zog vorsichtig die Tür ins Schloß und hoffte, daß die Großmutter schon schlief. Sicherheitshalber öffnete er ihre Schlafzimmertür einen Spaltbreit und hörte sie schnarchen. Dann setzte er sich wieder vor den Computer und machte da weiter, wo er aufgehört hatte. Immer wieder fiel ihm etwas Neues ein. Plötzlich dachte er daran, daß sie vor einiger Zeit eine Katze gehabt hatte, sie hatten das Tier in einer Schneewehe gefunden, platt wie eine Pizza. Er gab den Namen »Baghira« ein - nichts passierte. Was er allerdings auch nicht erwartet hatte. Er nahm an, daß er noch lange an dieser Aufgabe sitzen würde. Außerdem gab es noch andere Methoden. Weit hinten in seinem Hinterkopf machte sich immer deutlicher der Gedanke bemerkbar, das Problem auf einfache Weise zu lösen. Aber noch hatte er den Mut nicht verloren. Und der einfache Ausweg wäre eine Art Mogelei. Wenn er den Code auf eigene Faust fand, würde das das Verbrechen kleiner machen, so kam es ihm jedenfalls vor. Er kratzte sich im Nacken und schrieb »Top Secret« in das schwarze Feld. Sicherheitshalber. Und dann schrieb er auch noch Annie Holland, vorwärts und rückwärts, denn ihm ging plötzlich auf, daß er es noch nicht mit der einfachsten Möglichkeit versucht hatte, der nächstliegenden, die sie natürlich nicht verwendet hatte - aber die sie doch hätte verwenden können. »Access denied«. Er rückte ein wenig vom Tisch ab, streckte sich und legte sich wieder die Hand in den
Nacken. Die Haut prickelte, so als säße dort irgendein irritierender Fremdkörper. Das war zwar nicht der Fall, aber das Gefühl ließ nicht nach. Verdutzt drehte er sich um und schaute aus dem Fenster. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus sprang er auf und zog die Vorhänge vor. Er hatte ganz klar das Gefühl, daß jemand ihn anstarrte, und deshalb sträubten sich ihm die Haare. Rasch löschte er das Licht. Draußen hörte er Schritte, die sich entfernten, so als liefe jemand durch die Stille davon. Er linste durch einen Spalt zwischen den Vorhängen, konnte aber niemanden sehen. Trotzdem wußte er, daß dort jemand gestanden hatte, so wie man ab und zu mit allen Sinnen etwas weiß, mit einer unwiderlegbaren, fast physischen Gewißheit. Er schaltete den Mac aus, zog sich aus und schlüpfte unter die Decke. Dort lag er, regte sich nicht und lauschte. Es herrschte
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