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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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dich, das auf der Wache laut zu sagen?«
    »Es gibt die stillschweigende Übereinkunft, daß wir das nicht tun. Der Staatsanwalt interessiert sich nicht für meine Gefühle. Aber er weiß natürlich, daß es sie gibt. Er nimmt Rücksicht darauf, würde das aber nie zugeben. Auch das ist eine stillschweigende Übereinkunft.« Nachdenklich blies er den Rauch aus und starrte an die Decke. »Was konnte Halvors Großmutter dir sonst noch liefern? Abgesehen von Waffeln und dem Vortrag über den Verfall?«
    »Sie hat viel über Halvors Vater erzählt. Was er für ein reizender kleiner Junge war. Und daß er später eigentlich nur unglücklich war.«
    »Das glaube ich gern. Wo er es doch über sich gebracht hat, seine eigenen Kinder halb totzuschlagen!«
    »Und sie sagt, daß Halvor sich in seinem Zimmer verschanzt hat. Offenbar sitzt er den ganzen Abend und oft auch noch die halbe Nacht vor seinem PC.«
    »Und was macht er da wohl?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht führt er Tagebuch.«
    »Das würde ich ja wirklich gern lesen.«
    »Wirst du ihn noch mal vorladen?«
    »Natürlich.«
    Sie leerten ihre Gläser und erhoben sich. Im Gehen fiel Skarres Blick auf das Foto von Elise, auf dem sie so strahlend lächelte.
    »Deine Frau?« fragte er vorsichtig.
    »Das letzte Bild von ihr.«
    »Die hat ja Ähnlichkeit mit Grace Kelly«, sagte Skarre begeistert. »Wie hast du alter Griesgram eine solche Schönheit herumkriegen können?«
    Sejer war so baff über diese Unverschämtheit, daß er stotterte: »Ich war damals noch kein G-g-griesgram«, sagte er mit schwacher Stimme.
    Langsam rollte das Auto über den Kiesweg auf die Kirche von Lundeby zu. Sie wurde abends angestrahlt, und sie ruhte im rosafarbenen Licht, als ob sie mit Fug und Recht immer schon hier gewesen sei. In Wirklichkeit war sie erst hundertfünfzig Jahre alt, ein winziger Seufzer in der Baumkrone der Ewigkeit. Sie schlossen vorsichtig die Türen, blieben beim Auto stehen und horchten. Skarre schaute sich um, machte einige Schritte in Richtung Kapelle und steuerte dann die Gräber davor an. Zehn weiße Steine, aufgestellt in Reih und Glied.
    »Was ist das?«
    Sie blieben stehen und lasen.
    »Kriegsgräber«, sagte Sejer leise. »Englische und kanadische Soldaten. Die Deutschen haben sie am neunten April hier in den Wäldern erschossen. Die Kinder legen hier am Nationalfeiertag Buschwindröschen ab. Das hat mir meine Tochter Ingrid erzählt.«
    »>Pilot Officer, Royal Air Force, A. F. Le Maistre of Canada. Age 26. God gave and God has taken.< Eine weite Reise für eine so kurze Heldentat.«
    »Mhm.«
    Skarre schaute sich um. »Hier komme ich, den ganzen Weg aus Kanada, in meiner neuen Uniform, um auf der richtigen Seite für euch zu kämpfen. Und das war’s dann. Nur Feuer und Tod.«
    Sejer musterte ihn leicht verwundert und ging dann in Richtung Kirche. Annie war am Rand des Friedhofs beigesetzt worden, in der Nähe eines großen Gerstenfeldes. Die Blumen waren nicht mehr frisch, sie sahen schon fast aus wie Kompost. Sie starrten die verwelkten Blumen an und machten sich ihre Gedanken. Dann gingen sie weiter und lasen die Aufschriften der anderen Grabsteine. Zwei Reihen von Annie entfernt fand Sejer, was er gesucht hatte. Einen kleinen Stein, oben abgerundet und mit schöner Schnörkelschrift.
    Skarre bückte sich und las: »Unser geliebter Eskil«.
    Sejer nickte und sah ihn an. »Eskil Johnas. Geboren am 4. August 92, gestorben am 7. November 94.«
    »Johnas? Der Teppichhändler?«
    »Der Sohn des Teppichhändlers. Ihm ist das Frühstück im Hals steckengeblieben, und daran ist er erstickt. Nach dem Tod des Jungen ist die Ehe in die Brüche gegangen. Das ist vielleicht nicht so seltsam, scheint häufiger vorzukommen. Aber es gibt noch einen älteren Sohn, der jetzt bei der Mutter lebt.«
    »Er hatte Bilder von dem Kleinen an der Wand«, sagte Skarre und schob die Hände in die Taschen. »Was soll das kleine Loch da oben?«
    »Sicher hat da jemand was geklaut. Da hat wahrscheinlich ein Vogel oder ein Engel gesessen, das macht man doch oft bei Gräbern von kleinen Kindern.«
    »Komisch, daß sie das nicht ersetzt haben. Das Grab sieht ziemlich jämmerlich aus, wenn du mich fragst. Fast schon vernachlässigt. Ich dachte, nur alte Menschen würden so schnell vergessen.«
    Sie drehten sich um und blickten auf die Felder, die den Friedhof auf allen Seiten umgaben. Die Lichter des nahegelegenen Pfarrhauses funkelten fromm in der blauen Dämmerung.
    »Es ist vielleicht nicht so

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