Fremde Blicke
Adern. Nichts schmeckt oder riecht noch, wie es soll. Auch Unterernährung tritt häufig auf. Kein Wunder, daß wir sterben, wenn wir alt werden.«
Bei dieser Bemerkung mußte Sejer schmunzeln. Dann dachte er an seine Mutter im Pflegeheim und wurde wieder ernst.
»Wie alt ist sie?«
»Dreiundachtzig. Und bei ihr im Oberstübchen ist auch nicht mehr alles so, wie es sein soll.« Er zeigte auf seinen kurzgeschorenen Kopf. »Es wäre besser, wenn wir etwas früher sterben würden, finde ich. So kurz vor siebzig vielleicht.«
»Ich glaube nicht, daß die Siebzigjährigen deine Ansicht teilen«, erwiderte Sejer kurz. »Möchtest du ein Wasser?«
»Ja, bitte.«
Skarre fuhr sich mit der Hand über den Kopf, wie um sich zu vergewissern, daß er seine neue Frisur nicht nur geträumt hatte.
»Du hast aber viel Musik, Konrad.« Er schielte zum Regal bei der Stereoanlage hinüber. »Hast du die gezählt?«
»An die fünfhundert«, rief Sejer aus der Küche.
Skarre sah sich die Titel an. Wie die meisten Menschen bildete er sich ein, daß die Musikauswahl wichtige Dinge über den Charakter eines Menschen aussagt.
»Laila Dalseth, Etta James, Billie Holliday, Edith Piaf. Du meine Güte!« Er starrte die CDs überrascht an und lächelte. »Das sind ja alles nur Frauen!« rief er.
»Was?« Sejer schenkte Mineralwasser ein.
»Nur Frauen, Konrad. Eartha Kitt, Lill Lindfors, Monica Zetterlund - wer ist denn das?«
»Eine der Besten. Aber du bist zu jung, um das zu wissen.«
Skarre setzte sich wieder, trank einen Schluck Mineralwasser und wischte die Unterseite seines Glases an seiner Hose ab. »Was hat Holland gesagt?«
Sejer zog seinen Tabak unter der Zeitung hervor und öffnete die Packung. Er nahm sich ein Blättchen und fing an zu drehen.
»Annie hat gewußt, daß Jensvoll gesessen hat. Vielleicht hat sie auch gewußt, warum.«
»Erzähl weiter!«
»Und ein Kind, auf das sie sehr oft aufgepaßt hat, ist durch einen Unfall umgekommen.«
Skarre griff nach seinen Zigaretten.
»Das war im November, ungefähr zu der Zeit, als alles so schwierig wurde. Annie wollte nicht mehr hingehen. Sie wollte den Eltern keine Blumen bringen und nicht an der Beerdigung teilnehmen, und danach hat sie nie wieder Kinder gehütet. Holland fand das nicht weiter erstaunlich, sie war schließlich erst vierzehn, zu jung, um mit dem Tod umgehen zu können.« Während er das erzählte, musterte er Skarre, und er sah, daß sein Kollege plötzlich hellwach aussah. »Danach hat sie mit dem Handball aufgehört, hat vorübergehend mit Halvor Schluß gemacht und sich in sich selber verkrochen. In dieser Reihenfolge ist das passiert: Kind stirbt, Annie zieht sich von ihrer Umgebung zurück.«
Skarre ließ sich Feuer geben und sah zu, wie Sejer seine Zigarette fertig drehte.
»Der Tod des Kindes war offenbar ein tragischer Unfall, der Kleine war erst zwei Jahre alt, und ich kann mir gut vorstellen, wie erschütternd ein solches Erlebnis für eine Vierzehnjährige ist. Sie hat das Kind gut gekannt. Und die Eltern. Aber ...« Er unterbrach sich, um seine Zigarette anzustecken.
»Haben wir damit die Erklärung für ihre Veränderung?«
»Möglicherweise. Außerdem hatte sie Krebs. Obwohl sie das vielleicht selber gar nicht wußte, kann diese Krankheit sie verändert haben. Aber ich hatte eigentlich gehofft, etwas anderes zu finden. Etwas, das uns weiterbringt.«
»Was ist mit Jensvoll?«
»Ich kann mir kaum vorstellen, daß jemand einen Mord begeht, um eine Vergewaltigung zu vertuschen, die vor elf Jahren geschehen ist. Und für die er seine Strafe längst abgesessen hat. Wenn es nicht einfach so war, daß er noch einmal zulangen wollte. Und daß dabei alles schiefgelaufen ist.«
»Meine Güte!« rief Skarre überrascht. »Du rauchst ja!«
»Nur diese eine, abends. Hast du nachher noch Zeit für einen kleinen Ausflug?«
»Aber sicher. Wohin soll’s denn gehen?«
»Zur Kirche von Lundeby.« Sejer zog lange und kräftig an seiner Zigarette.
»Warum?«
»Ach, ich weiß nicht. Ich schnüffle eben gern herum, das ist alles.«
»Vielleicht kannst du an der frischen Luft besser denken?«
Sejer kratzte Wachsflecke von der sandstrahlbehandelten Tischplatte. »Ich habe immer gemeint, daß die Umgebung unser Denken beeinflußt. Daß wir mehr aufnehmen, wenn wir uns an Ort und Stelle befinden. Wenn wir eine Art Aufnahmebereitschaft für gewisse Dinge in uns haben. Für die >Sprache der Dingec.«
»Überaus faszinierend«, sagte Skarre. »Traust du
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