Fremde Blicke
leicht herzukommen. Die Mutter wohnt jetzt in Oslo, das ist ziemlich weit.«
»Johnas braucht nur zwei Minuten.« Skarre schaute in die andere Richtung, zum Fagerlundsas hinüber, dessen Häuser unterhalb der Kuppe glitzerten.
»Er kann die Kirche vom Wohnzimmerfenster aus sehen«, sagte Sejer. »Das habe ich mir bei unserem Besuch gemerkt. Vielleicht reicht ihm das.«
»Jetzt hat er seine Welpen.«
Sejer schwieg.
»Und was machen wir jetzt?«
»Ich weiß nicht so recht. Aber dieser kleine Junge ist gestorben.« Sejer sah sich noch einmal das Grab an und runzelte die Stirn. »Und Annie war danach wie ausgewechselt. Warum hat sie das so schwer genommen? Sie war ein robustes, durchsetzungsfähiges Mädchen. Stimmt das denn nicht, daß gesunde, normale Menschen alles mögliche überwinden? Sind wir nicht so geschaffen, daß wir den Tod akzeptieren und weiterleben, jedenfalls nach einiger Zeit?«
Plötzlich ging ihm auf, was er da sagte, und sofort verstummte er. Leicht verwirrt kniete er nieder und betrachtete ein weiteres Mal das fast nackte Grab, während seine Finger sich ziellos im spärlichen Blattwerk zu schaffen machten.
»Daß sie trotzdem so reagiert hat, obwohl sie robust war, was hat das zu bedeuten?«
»Ach, ich weiß nicht. Ich weiß auch nicht, worauf ich hinaus will.«
»Wie bringt jemand es über sich, von einem Grab zu stehlen?« fragte Skarre.
»Daß du das nicht fassen kannst«, erwiderte Sejer und erhob sich, »ist sicher ein gutes Zeichen.«
Sie gingen zum Auto zurück.
»Glaubst du an Gott?« fragte Skarre plötzlich.
Sejer verzog den Mund auf seltsam schmollende Weise. »Tja, nein, ich glaube nicht. Ich glaube wohl eher - an eine Art Kraft«, sagte er mühsam.
Skarre lächelte. »Das habe ich schon häufiger gehört. Diese Kraft ist irgendwie salonfähiger. Schon komisch, wie schwer es uns fällt, ihr einen Namen zu geben. Natürlich ist das Wort Gott stark belastet. Aber was glaubst du, wo diese Kraft uns hinführt?«
»Ich habe Kraft gesagt«, erklärte Sejer. »Nicht Wille.«
»Du glaubst also an eine willenlose Kraft?«
»Das habe ich auch nicht gesagt. Ich nenne es einfach Kraft, und inwieweit sie von einem Willen gelenkt wird oder nicht, ist eine offene Frage.«
»Aber eine willenlose Kraft bringt doch nichts, oder?«
»Du läßt ja wirklich nicht locker. Versuchst du, auf unbeholfene Weise deinen Glauben zu bekennen?«
»Ja«, sagte Skarre einfach.
»Du meine Güte! Was man alles nicht weiß!« Sejer dachte ein wenig über diese unerwartete Auskunft nach und murmelte schließlich: »Die Sache mit dem Glauben habe ich nie begreifen können.«
»Wieso nicht?«
»Ich verstehe nicht so ganz, was dazugehört.«
»Es geht einfach darum, Stellung zu beziehen. Man entscheidet sich für eine Haltung dem Leben gegenüber, und diese Haltung hilft einem immer weiter. Sie gibt uns einen Ursprung und Leben und Tod einen Sinn, der unvorstellbar befriedigend ist.«
»Stellung beziehen? Hat der Glaube dich nicht einfach eines Tages erfüllt?«
Skarre öffnete den Mund und stieß ein glucksendes Lachen aus, das an Südküste, Schärengürtel und Salzwasser erinnerte.
»Wir machen uns alles immer so schwer. Und dabei ist die Sache ganz einfach: Wir brauchen nicht alles zu verstehen. Wir müssen vor allem fühlen. Das Verständnis stellt sich dann nach und nach ein.«
»Von mir aus gern«, sagte Sejer.
»Ich weiß genau, was bei dir Sache ist.« Skarre grinste. »Du glaubst nicht an Gott, aber das Perlentor siehst du trotzdem deutlich vor dir. Und wie die meisten hoffst du, daß Sankt Petrus über seinem dicken Buch eingeschlafen ist und daß du in einem unbewachten Augenblick in den Himmel schlüpfen kannst.«
Sejer lachte herzlich und aus voller Seele und machte etwas, das er nie für möglich gehalten hätte. Er legte Skarre den Arm um die Schultern und versetzte ihm einen Klaps.
Sie hatten das Auto erreicht. Sejer zupfte ein dünnes Ahornblatt weg, das auf der Windschutzscheibe klebte.
»Ich hätte einen neuen Vogel gekauft«, sagte Skarre, »und ihn am Stein ordentlich festgelötet, wenn das mein Kind gewesen wäre.«
Sejer ließ den alten Peugeot an, der erst eine Weile vor sich hin brummen durfte.
»Ich auch.«
Halvor saß noch immer vor dem Bildschirm. Er hatte nicht angenommen, daß es leicht sein würde, denn nichts in seinem Leben war leicht gewesen. Es konnte Monate dauern, aber das schreckte ihn nicht ab. In Gedanken ging er immer wieder durch, welche Bücher
Weitere Kostenlose Bücher