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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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freien Stuhl.
    Er starrte sie an, und langsam erfüllte ihn ein fast vergessenes Gefühl. Er war ganz allein mit einer schönen Frau, es war sonst niemand da, hinter dem er sich hätte verstecken können. Sie lächelte ihn an, als ob auch ihr dieser Gedanke gerade gekommen sei. Aber sie verlor nicht die Fassung. Sie war immer schon eine Schönheit gewesen.
    »Ich habe Annie gut gekannt«, sagte sie. »Sie hat oft für uns auf Eskil aufgepaßt. Wir hatten einen Sohn«, erklärte sie, »den wir im letzten Jahr verloren haben. Er hieß Eskil.«
    »Das weiß ich.«
    »Sie haben natürlich schon mit Henning gesprochen. Wir haben leider danach den Kontakt zu Annie verloren, sie hat uns nicht mehr besucht. Die Arme, sie hat mir so leid getan. Sie war doch erst vierzehn, da weiß man nicht so recht, was man sagen soll.«
    Sejer nickte und machte sich an seinen Jackenknöpfen zu schaffen. Plötzlich war es sehr warm in dem kleinen Büro.
    »Haben Sie überhaupt keine Vorstellung davon, wer es gewesen sein könnte?« fragte sie.
    »Nein«, antwortete er ehrlich. »Vorläufig sammeln wir einfach nur Informationen. Und dann werden wir ja sehen, ob wir in die Phase übergehen können, die wir die >taktische< nennen.«
    »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht großartig weiterhelfen.« Sie starrte ihre Hände an. »Ich habe sie gut gekannt, als feines Mädchen, lieber und tüchtiger, als Mädchen sonst in diesem Alter sind. Sie war nie albern. Hat hart trainiert und sich in Form gehalten, war gut in der Schule. Und hübsch war sie noch dazu. Sie hatte einen Freund, einen Jungen namens Halvor. Aber vielleicht hatte sie inzwischen mit ihm Schluß gemacht?«
    »Nein«, sagte Sejer leise.
    Sie schwiegen eine Weile. Er wartete ab, ob sie dieses Schweigen beenden würde.
    »Was möchten Sie wissen?« fragte sie schließlich.
    Er schwieg noch immer und sah sie an. Sie war adrett und schlank, sie hatte braune Augen. Sie trug ausschließlich Stricksachen, eine einzige große Reklame für ihre Branche. Ein schönes Kostüm mit schmalem Rock und taillierter Jacke, tiefrot mit grünen und senfgelben Kanten. Schwarze flache Schuhe. Schlichte, glatte Frisur. Lippenstift in der Farbe ihres Kostüms. Bronzene Pfeilspitzen in den Ohren, teilweise in den dunklen Haaren versteckt. Sie war etwas jünger als er, an Augen und Mund zeigten sich die ersten feinen Linien. Der Sohn Eskil mußte ganz am Ende ihrer Jugend gekommen sein.
    »Ich wollte einfach nur reden«, sagte er vorsichtig. »Ich suche nichts Bestimmtes. Sie hat also auf Eskil aufgepaßt?«
    »Mehrmals die Woche«, sagte sein Gegenüber leise. »Sonst wollte niemand Eskil hüten, er war nicht besonders pflegeleicht. Die anderen zogen andere Kinder vor. Aber das haben Sie sicher schon gehört.«
    »Ja, das ist erwähnt worden«, log er.
    »Er war schrecklich aktiv, fast an der Grenze zum Anormalen. Ich glaube, das nennt man hyperaktiv. Sie wissen schon, immer auf Trab, keine Sekunde Ruhe.« Sie lachte kurz und hilflos. »Ich gebe das nicht gern zu, ich hoffe, Sie verstehen das. Aber er war ganz einfach ein schwieriges Kind. Annie kam besser mit ihm zurecht als die meisten anderen.« Sie brach ab und dachte kurz nach. »Und sie war recht oft bei uns. Wir waren ziemlich kaputt, Henning und ich, und es war wie eine Erlösung, wenn sie in der Tür stand und lächelte und sich um ihn kümmern wollte. Er saß in der Karre, und wir haben ihr Geld gegeben, damit sie ins Zentrum gehen und sich etwas Leckeres kaufen konnten. Schokolade und Eis und so. Dafür brauchten sie in der Regel eine Stunde, ich glaube, sie hat ganz bewußt herumgetrödelt. Ich hatte damals Nachtwachen im Pflegeheim und mußte tagsüber schlafen, deshalb war mir das sehr willkommen. Wir haben zwar noch einen Sohn, Magne, aber der war fast schon zu groß, um mit einem Kinderwagen durch die Gegend zu ziehen. Jedenfalls wollte er das nicht. Deshalb haben wir ihn verschont, das passiert Jungen ja oft.«
    Wieder lächelte sie und setzte sich etwas anders hin. Immer, wenn sie sich bewegte, huschte ein Hauch von Vanille durchs Zimmer. Sie behielt die ganze Zeit die Tür im Auge, es kam jedoch niemand. Die Erwähnung ihres Sohnes schien irgendeine Unruhe in ihr ausgelöst zu haben. Ihr Blick war überall, nur nicht auf Sejers Gesicht gerichtet, er flog umher wie ein Vogel durch ein zu kleines Zimmer, über die Regale mit der Wolle, zum Tisch, durch den Laden.
    »Wie alt war Eskil bei seinem Tod?« fragte Sejer.
    »Siebenundzwanzig

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