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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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herauszuholen. Sie klammerten sich aneinander und sagten kein Wort. Aber nach allerlei Hin und Her konnten wir Halvor entlocken, daß sein Vater den ganzen Tag über getrunken und sich dabei in eine wahnwitzige Wut hineingesteigert hatte. Er redete unzusammenhängend und schlug große Teile im Erdgeschoß kaputt. Die Jungen waren fast den ganzen Tag außer Haus gewesen, aber als der Abend kam und es kalt wurde, mußten sie irgendwann nach Hause. Halvor erwachte, als der Vater mit einem Brotmesser in der Hand über dem Bett stand. Er stach einmal auf Halvor ein, dann schien er zur Besinnung zu kommen. Er stürzte aus dem Zimmer, Halvor hörte die Tür ins Schloß fallen. Danach hörte er, wie der Vater sich mit der Schuppentür abmühte. Sie hatten auf dem Hof so einen altmodischen Holzschuppen. Nach einiger Zeit fiel dann ein Schuß. Halvor traute sich nicht, nach dem Rechten zu sehen, er schlich sich ins Wohnzimmer und rief mich an. Aber er konnte sich schon denken, was los war. Er hatte schreckliche Angst, seinem Vater könne etwas passiert sein. Das Jugendamt hatte schon seit Jahren ein Auge auf die Jungen, aber Halvor hatte sich immer gewehrt. Erst in dieser Nacht protestierte er nicht mehr.«
    Der Lensmann erhob sich und lief im Zimmer hin und her. Er druckste ein wenig herum und schien nervös zu sein. Sejer hatte nicht vor, ihm aus der Verlegenheit herauszuhelfen.
    »Schwer zu sagen, wie ihm zumute war. Halvor war ein sehr verschlossener Junge. Aber um ehrlich zu sein, verzweifelt war er wohl kaum. Eher auf irgendeine Weise zielgerichtet, vielleicht weil nun endlich sein neues Leben beginnen konnte. Der Tod seines Vaters war ein Wendepunkt. Er muß doch eine Erleichterung bedeutet haben. Die Kinder hatten immer Angst und bekamen nie, was sie brauchten.«
    Wieder verstummte er. Kehrte Sejer noch immer den Rücken zu und wartete auf einen Kommentar. Schließlich wollte der Hauptkommissar etwas von ihm, nicht umgekehrt. Aber nichts geschah. Der Lensmann schien über einer Bemerkung zu brüten, dann drehte er sich endlich um.
    »Wir haben erst später angefangen, uns Gedanken zu machen.« Er ging zu seinem Sessel zurück. »Der Vater lag im Schlafsack. Er hatte Jacke und Stiefel ausgezogen und sogar seinen Pullover aufgerollt und sich unter den Kopf gelegt. Ich meine, er hatte sich wirklich schlafen gelegt. Nicht«, sagte er und holte Atem, »zum Sterben. Deshalb sind wir hinterher auf den Gedanken gekommen, daß ihm durchaus jemand in die Ewigkeit hinübergeholfen haben könnte.«
    Sejer schloß die Augen. Er rieb energisch an einer Augenbraue herum und sah kleine Schuppen herunterrieseln.
    »Sie meinen Halvor?«
    »Ja«, sagte der Lensmann düster. »Ich meine Halvor. Halvor kann ihm gefolgt sein. Dann hat er gesehen, daß sein Vater schlief, hat das Schrotgewehr in den Schlafsack geschoben, zwischen die Hände seines Vaters, und abgedrückt.«
    Sejer lief es kalt den Rücken hinunter.
    »Was haben Sie unternommen?«
    »Nichts.« Der Lensmann breitete in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände aus. »Wir haben rein gar nichts unternommen. Wir hatten schließlich keinerlei konkrete
    Anhaltspunkte. Abgesehen von der Tatsache, daß der Vater in seinem Suff fast schon bewußtlos war und es sich gemütlich gemacht hatte, indem er die Stiefel ausgezogen und seinen Pullover zum Kissen gemacht hatte. Die Wunde war typisch für einen Selbstmörder. Kontaktschuß, mit Einschußöffnung unter dem Kinn und Ausstoß oben auf dem Kopf. Kaliber sechzehn. Keine anderen Fingerabdrücke auf dem Gewehr. Keine verdächtigen Fußspuren vor dem Schuppen. Wir hatten, im Gegensatz zu Ihnen, eine Wahl. Aber Sie würden das vielleicht anders nennen. Pflichtversäumnis oder grobe Unachtsamkeit?«
    »Ich könnte auch noch schlimmere Bezeichnungen finden.« Sejer lächelte plötzlich. »Wenn ich wollte. Aber haben Sie mit ihm geredet?«
    »Wir haben ihn routinemäßig zum Verhör geholt, schließlich war ein Schuß gefallen. Aber wir sind nicht weitergekommen. Sein Bruder war erst sechs, er kannte die Uhr noch nicht und konnte deshalb Halvors Zeitangaben weder bestätigen noch widerlegen. Die Mutter war vollgepumpt mit Valium, und keiner der Nachbarn hatte den Schuß gehört. Die Familie wohnte ziemlich abgelegen, in einem häßlichen Haus, in dem ursprünglich ein Lebensmittelladen untergebracht war. Einem grauen Steinhaus mit steiler Außentreppe und einem einzigen großen Fenster neben der Tür.«
    Er fuhr sich über die Oberlippe,

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