Fremde Blicke
sagen?«
Halvor blickte auf. »Lassen Sie mich etwa bespitzeln?« »Im Grunde schon. Wir lassen im Moment sehr viele Leute bespitzeln. Schreiben Sie Tagebuch?«
»Ich spiele einfach nur. Schach zum Beispiel.«
»Mit sich selber?«
»Mit der Jungfrau Maria«, antwortete Halvor trocken.
Sejer schmunzelte. »Ich rate Ihnen, mir zu erzählen, was Sie wissen. Sie wissen etwas, Halvor, da bin ich mir sicher. Waren Sie zu zweit? Versuchen Sie, jemanden zu decken?«
»Ich sitze auf einem Holzstuhl, und mein Hintern ist schweißnaß«, sagte Halvor mürrisch.
»Wenn wir einen Haftbefehl durchsetzen können, werden wir Ihren Computer vielleicht beschlagnahmen.«
»Bitte sehr«, plötzlich lächelte Halvor, »aber Sie werden nicht hineinkommen.«
»Nicht hineinkommen? Warum nicht?«
Halvor machte den Mund zu und widmete sich wieder seinem Schuh.
»Weil Sie den Zugang gesperrt haben?«
Halvors Mund war wie ausgedörrt, aber er wollte nicht um eine Cola bitten. Zu Hause im Kühlschrank hatte er eine Flasche Malzbier, an die dachte er jetzt.
»Dann gehe ich davon aus, daß der PC etwas Wichtiges enthält, sonst hätten Sie das doch nicht gemacht?«
»Das war nur aus Jux.«
»Dürfte ich um etwas längere Sätze bitten, Halvor?«
»Es ist nicht wichtig. Es sind nur Kritzeleien, Zeug, das ich mir ausdenke, wenn ich mich langweile.«
Sejer erhob sich, sein Stuhl rutschte lautlos über den Linoleumboden nach hinten.
»Sie sehen durstig aus. Ich hole uns eine Cola.«
Sejer verschwand, und das Büro schloß sich um Halvor. Er hatte seinem Schuh inzwischen ein ziemliches Loch beigebracht und betrachtete nun seine schmutzige Tennissocke. Weit weg hörte er eine Sirene, konnte aber nicht feststellen, was für ein
Alarm das war. Ansonsten hörte er in dem großen Haus ein regelmäßiges Summen, ungefähr wie im Kino, ehe der Film beginnt. Sejer kehrte mit zwei Flaschen und einem Öffner zurück.
»Ich mache ein bißchen das Fenster auf, ja?«
Halvor nickte. »Ich war es wirklich nicht.«
Sejer holte Plastikbecher und schenkte ein. Es schäumte über den Rand.
»Ich hatte doch keinen Grund.«
»So auf die Schnelle kann ich auch keinen sehen«, sagte Sejer. Er seufzte und trank. »Aber das braucht nicht zu bedeuten, daß Sie keinen hatten. Ab und zu gehen unsere Gefühle mit uns durch, und in der Regel ist die Antwort ganz einfach. Ist das Ihnen auch schon mal passiert?«
Halvor schwieg.
»Kennen Sie Raymond aus dem Kollevei?«
»Den Mongoloiden? Den sehe ich ab und zu auf der Straße.«
»Waren Sie je bei seinem Haus?«
»Ich bin vorbeigefahren. Er hat Kaninchen.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Nie.«
»Wissen Sie, daß Knut Jensvoll, Annies Handballtrainer, wegen Vergewaltigung gesessen hat?«
»Annie hat das erwähnt.«
»Haben auch andere das gewußt?«
»Keine Ahnung.«
»Kannten Sie den Jungen, den sie so oft gehütet hat? Eskil Johnas?«
Jetzt blickte Halvor verwundert auf. »Ja. Der ist tot.«
»Erzählen Sie von ihm.«
»Warum?« fragte Halvor überrascht.
»Erzählen Sie einfach.«
»Naja, er war wohl - lieb und brav.«
»Lieb und brav?« »Voller Energie.«
»Schwierig?«
»Ein bißchen anstrengend vielleicht. Konnte nicht stillsitzen. Ich glaube, er hat auch Medikamente bekommen. Mußte immer angebunden werden, auf seinem Stuhl und in der Karre. Ich war einige Male dabei, wenn Annie auf ihn aufgepaßt hat. Sie war als einzige dazu bereit. Aber Sie wissen ja, Annie ...«
Er leerte seinen Becher und wischte sich über den Mund.
»Haben Sie seine Eltern gekannt?«
»Vom Sehen.«
»Und den älteren Sohn?«
»Magne? Auch nur vom Sehen.«
»Hat er sich je für Annie interessiert?«
»So wie alle. Lange Blicke, wenn sie vorüberkam.«
»Was haben Sie dazu gesagt, Halvor? Daß andere Ihrer Freundin lange Blicke nachgeworfen haben.«
»Erstens war ich daran gewöhnt. Und zweitens war Annie ziemlich abweisend.«
»Und doch ist sie mit einem anderen mitgegangen. Es gibt eine Ausnahme, Halvor.«
»Ja, ich weiß.« Halvor war müde. Er schloß die Augen. Die Narbe in seinem Mundwinkel schimmerte im Lampenlicht wie ein Silberfaden. »Vieles an Annie konnte ich nicht verstehen. Manchmal war sie wütend oder schrecklich gereizt, und wenn ich sie nach dem Grund fragte, wurde alles noch schlimmer, dann kläffte sie, daß sich nicht alles auf dieser Welt so einfach erzählen läßt.«
Er schnappte nach Luft.
»Sie hatten also das Gefühl, daß Annie etwas wußte? Etwas, das sie
Weitere Kostenlose Bücher