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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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obwohl kein Tropfen an seiner Nase gehangen hatte.
    »Aber zum Glück sprach einiges dagegen.«
    »Zum Beispiel?«
    »Wenn wirklich Halvor geschossen hätte, dann hätte er neben seinem Vater auf dem Bauch liegen, dem das Gewehr auf den Bauch pressen und die Mündung unter sein Kinn halten müssen. Bei dem Schußwinkel war nichts anderes möglich. Hätte ein Fünfzehnjähriger mit zerschnittener Wange das geschafft?«
    »Nicht unmöglich. Wer jahrelang mit einem Psychopathen zusammenwohnt, lernt sicher allerlei Tricks. Halvor ist
    schließlich nicht dumm.«
    »Waren Sie ein Paar? Er und die kleine Holland?«
    »Eine Art Paar«, antwortete Sejer. »Ihre Annahme macht mich durchaus nicht froh, aber ich muß sie wohl in Betracht ziehen.«
    »Sie müssen das also veröffentlichen?«
    »Wenn Sie mir eine Kopie Ihrer Unterlagen geben, ist mir schon geholfen. Aber nach so langer Zeit läßt sich sicher ohnehin nichts mehr beweisen. Ich glaube, Sie können ganz ruhig sein. Ich habe selber auf dem Land gearbeitet, ich weiß, wie das ist. Man ist den Leuten zu nahe.«
    Der Lensmann starrte traurig aus dem Fenster. »Jetzt habe ich Halvor geschadet, indem ich Ihnen das erzählt habe. Er hätte etwas Besseres verdient. Er ist der fürsorglichste Junge, der mir je über den Weg gelaufen ist. Er hat sich die ganzen Jahre um seine Mutter und seinen Bruder gekümmert, und ich habe gehört, daß er jetzt bei der alten Frau Muntz lebt und sie pflegt.«
    »Stimmt.«
    »Dann findet er endlich eine Freundin. Und es muß ein solches Ende nehmen ... wie geht es ihm, behält er den Kopf über Wasser?«
    »Ja, das schon. Vielleicht erwartet er vom Leben nichts anderes als eine Reihe von Katastrophen.«
    »Wenn er seinen Vater umgebracht hat«, sagte der Lensmann und blickte Sejer in die Augen, »dann war das Notwehr. Es galt Halvor oder der Alte. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß er aus einem anderen Grund töten könnte. Deshalb ist es nicht gerecht, diese Sache gegen ihn zu verwenden. Diese Episode, die wir ohnehin nie ganz aufklären konnten. Im nachhinein habe ich das Problem für mich dadurch gelöst, daß ich ihn freigesprochen habe. Daß ihm meine Zweifel zugute gekommen sind.« Er fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Die arme Lily wußte sicher nicht, was sie tat, als sie Torkel Muntz geheiratet hat. Mein Vater war vor mir hier Lensmann, und mit Torkel Muntz hat es immer Probleme gegeben. Er war ein
    Streithammel, aber auch ein fescher Mann. Und Lily war hübsch. Allein hätten beide es zu etwas bringen können. Aber manche Kombinationen funktionieren einfach nicht, was?«
    Sejer nickte. »Wir haben nachher eine Besprechung, und dann müssen wir entscheiden, ob wir Anklage erheben wollen. Ich fürchte .«
    »Ja?«
    »Ich fürchte, ich kann die anderen nicht überreden, Halvor die Untersuchungshaft zu ersparen. Jetzt nicht mehr.«
    Holthemann blätterte in den Unterlagen und starrte seine Leute an, als wolle er durch die Macht seines Blickes ein Ergebnis erzwingen. Der Abteilungschef war ein Mann, dem man, wenn er zum Beispiel in einem Supermarkt in der Warteschlange hinter einem gestanden hätte, niemals Mut oder Macht zugetraut hätte. Er war ausgedörrt und grau wie trockenes Gras, hatte eine blanke, schwitzende Halbglatze und einen trüben, von Bifokalgläsern zerschnittenen Blick.
    »Was ist mit diesem Sonderling oben im Kollevei?« fragte er als erstes. »Wie gründlich habt ihr dem auf die Finger geschaut?«
    »Raymond Lake?«
    »Ihm gehört die Jacke, mit der die Leiche zugedeckt war. Und Karlsen sagt, es seien Gerüchte im Umlauf.«
    »Davon gibt es viele«, sagte Sejer kurz. »Was genau meinst du?«
    »Zum Beispiel wird behauptet, daß er durch die Gegend fährt und den Mädchen hinterhersabbert. Es gibt auch Gerüchte über seinen Vater. Daß dem nichts fehlt, sondern daß er nur auf dem Rücken liegt und Pornos liest und den armen Jungen alle Arbeit machen läßt. Vielleicht hat Raymond heimlich ein wenig gelesen und sich davon inspirieren lassen.«
    »Ich bin davon überzeugt, daß wir es mit einem Mann aus Annies engster Umgebung zu tun haben«, sagte Sejer. »Und ich glaube, er versucht uns hinters Licht zu führen.«
    »Du glaubst Halvor also?«
    Sejer nickte. »Außerdem haben wir noch einen geheimnisvollen Mann, der bei Raymond aufgetaucht ist und ihm eingeredet hat, das Auto sei rot gewesen.«
    »Was für eine Geschichte! Vielleicht war das ein harmloser Wanderer. Raymond ist doch ein Trottel! Glaubst

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