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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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quälte?«
    »Ich weiß nicht. Doch. Ich habe Annie viel über mich erzählt. Fast alles. Um ihr klarzumachen, daß es nicht gefährlich ist, sich jemandem anzuvertrauen.«
    »Aber Ihre Geheimnisse waren offenbar nicht in der richtigen
    Größenordnung? Die von Annie waren schlimmer?«
    Schlimmer hätten sie gar nicht sein können. Um nichts in der Welt.
    »Halvor?«
    »Irgend etwas«, sagte Halvor leise und öffnete die Augen wieder, »lag über Annie wie ein Deckel.«

IRGEND ETWAS LAG ÜBER ANNIE wie ein Deckel.
    Dieser Satz war so fein formuliert, daß Sejer Halvor glaubte, das merkte er jetzt. Oder wollte er ihm vielleicht ganz einfach glauben? Und trotzdem. Die Schultasche im Schuppen. Das deutliche Gefühl, daß Halvor ihm etwas verheimlichte. Sejer starrte auf die Straße und reihte in Gedanken Sätze aneinander. Sie hütete gern Kinder. Das Kind, das sie am liebsten hütete, war besonders schwierig und außerdem tot. Sie konnte keine eigenen Kinder bekommen und hatte nicht mehr lange zu leben. Sie hatte einen Freund, den sie bisweilen ankläffte, sie machte Schluß und wollte dann doch wieder mit ihm Zusammensein. Sie schien nicht gewußt zu haben, was sie wirklich wollte. Und all die Tatsachen ergaben für ihn keinen Sinn.
    Er schob die Hände in die Taschen und überquerte den Parkplatz. Fand seinen Wagen und bugsierte ihn vorsichtig auf die Straße. Dann fuhr er in die Nachbargemeinde, in der Halvor seine Kinderschuhe - oder vielmehr den Mangel an solchen -ausgetreten hatte. Damals hatte das Lensmannsbüro in einer alten Villa gelegen, jetzt fand er es in einem neuen Einkaufszentrum, eingeklemmt zwischen Supermarkt und Finanzamt. Er wartete eine Weile im Vorzimmer und war tief in Gedanken versunken, als der Lensmann den Raum betrat. Eine blasse Hand mit Sommersprossen auf dem Handrücken drückte seine. Der Mann war Anfang Vierzig, schmal, schlecht pigmentiert in Haut und Haaren, mit schlecht verhohlener Neugier in den blaugrünen Augen. Aber absolut zuvorkommend. Einen Hauptkommissar aus einer anderen
    Gemeinde bekam er nicht jeden Tag zu Gesicht. Meistens hatte er das Gefühl, der Rest der Welt habe ihn vergessen.
    »Nett, daß Sie die Zeit erübrigen können«, sagte Sejer und folgte ihm durch den Flur.
    »Sie haben einen Mordfall erwähnt. Annie Holland?«
    Sejer nickte.
    »Ich habe das in den Zeitungen verfolgt. Und Sie sind vermutlich hier, weil Sie jemanden im Visier haben, den ich kenne? Habe ich das richtig verstanden?«
    Er zeigte auf einen freien Sessel.
    »Naja, so ungefähr. Wir haben jemanden in U-Haft. Er ist eigentlich noch ein Junge, aber wir haben bei ihm zu Hause etwas gefunden, das uns keine Wahl gelassen hat.«
    »Und die hätten Sie gern?«
    »Ich glaube nicht, daß er es war.« Sejer lächelte über seine eigenen Worte.
    »Ach was. Na, das kommt vor.« In der Stimme des Lensmanns lag keinerlei Ironie, er faltete seine blassen Hände und wartete.
    »Im Dezember 92 ist hier im Bezirk ein Selbstmord verübt worden. Zwei Brüder wurden danach ins Kinderheim Bjerkeli gebracht, die Mutter landete in der psychiatrischen Abteilung des Zentralkrankenhauses. Ich wüßte gern mehr über Halvor Muntz, geboren 1976, Sohn von Torkel und Lily Muntz.«
    Der Lensmann kannte diese Namen. Plötzlich machte er ein besorgtes Gesicht.
    »Sie hatten damals mit dem Fall zu tun, nicht wahr?«
    »Ja, leider, das hatte ich. Ich und ein jüngerer Beamter. Halvor, der Ältere, hat mich angerufen, bei mir zu Hause. Mitten in der Nacht. Ich weiß das Datum noch genau, es war der 13. Dezember, meine Tochter sollte am nächsten Tag in der Schule nämlich die Luzia spielen. Weil ich nicht allein da rausfahren wollte, habe ich einen gerade erst eingestellten Kollegen mitgenommen, bei dieser Familie wußte man nämlich nie, was einem bevorstand. Wir fuhren also zum Haus und fanden die Mutter auf dem Wohnzimmersofa, unter der Bettdecke versteckt, und die beiden Kinder im ersten Stock. Halvor sagte kein Wort. Er lag neben seinem kleinen Bruder im Bett und sah entsetzlich aus. Überall Blut. Wir haben sie untersucht, sahen, daß keine Lebensgefahr bestand, und atmeten erleichtert auf. Dann machten wir uns auf die Suche. Der Vater lag neben einem vergammelten Schlafsack im Holzschuppen. Sein halber Kopf war weggeschossen.«
    Er verstummte, und Sejer konnte die Bilder, die in diesem Moment vor dem inneren Auge seines Gegenübers auftauchten, fast körperlich spüren.
    »Es war nicht leicht, etwas aus den beiden

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