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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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und im glitzernden Wasser endete langsam das Leben.
    Sejer starrte den kleinen Strand an.
    Eine Ewigkeit verging. Annie wehrte sich jetzt nicht mehr. Der Mann stand auf und starrte zum Weg hinauf. Niemand hatte sie gesehen. Annie lag im trüben Wasser auf dem Bauch. Vielleicht fand er diesen Anblick schrecklich, jedenfalls zog er sie wieder heraus. Langsam kam Ordnung in seine Gedanken. Die Polizei würde sie finden und ihre Schlüsse ziehen. Ein junges Mädchen, tot im Wald. Ein Vergewaltiger natürlich, der zu weit gegangen war. Er zog sie aus, allerdings sehr vorsichtig, mühte sich mit Knöpfen und Reißverschluß und Gürtel ab und legte die Kleider ordentlich neben die Tote. Ihre unanständige Haltung paßte ihm nicht, auf dem Rücken, mit gespreizten
    Beinen, aber sonst hätte er ihr die Hose nicht ausziehen können. Deshalb drehte er sie auf die Seite, schob ihre Knie nach oben, legte die Arme zurecht. Denn dieses Bild, das allerletzte, würde ihn für den Rest seines Lebens verfolgen, und wenn er das aushalten wollte, dann mußte es so friedlich wie möglich sein.
    Woher hatte er den Mut, sich soviel Zeit zu lassen?
    Sejer ging ans Ufer und blieb einen Zentimeter vom Wasser entfernt stehen. Lange stand er so. Die Erinnerung daran, wie sie sie gefunden hatten, tauchte vor seinem inneren Auge auf und legte zunächst keine Bosheit nahe, sondern eher eine herzzerreißende Verzweiflungstat. Plötzlich hatte er das Bild eines verwirrten armen Wichtes vor Augen, der in tiefer Finsternis kämpfte. Es war kalt und stickig, immer wieder stieß er mit dem Kopf gegen eine Wand, kriegte kaum Luft, kam nicht hinaus. Endlich durchbrach er diese Wand. Es war Annie.
    Sejer machte kehrt und ging langsam zurück. Der Wagen oder vielleicht das Motorrad des Mörders hatte vermutlich da gestanden, wo er jetzt seinen Peugeot abgestellt hatte. Der Mörder hatte die Tür geöffnet und Annies Schultasche entdeckt. Hatte kurz gezögert, die Tasche aber stehenlassen und war mit diesem kompromittierenden Gepäck losgefahren. Rasch vorbei an Raymonds Haus, hatte sie kommen sehen, den Sonderling und ein Mädchen mit einem Puppenwagen. Die kleine sah das Auto. Manche Kinder haben einen guten Blick für Einzelheiten. Zum erstenmal packte ihn das Entsetzen. Er fuhr weiter, kam an drei Höfen vorbei, erreichte endlich die Hauptstraße. Und nun konnte Sejer ihn nicht mehr sehen.
    Er stieg in seinen Wagen und fuhr los. Im Spiegel sah er die Staubwolke, die der Peugeot aufwirbelte. Raymonds Haus wirkte still, es sah fast verlassen aus. Weiße und braune Kaninchen wuselten in ihren Ställen hin und her, als er vorüberfuhr. Der Kastenwagen mit der verbrauchten Batterie stand auf dem Hof. Ein altes Auto, vielleicht mit einem defekten Zylinder? Der Maschendraht und die Bewegungen dahinter erinnerten ihn plötzlich an seine eigene Kindheit, jene Jahre, ehe sie Dänemark verlassen hatten. Sie hatten im Gemüsegarten hinten einen Käfig mit braunen Zwerghühnern. Jeden Morgen sammelte er die seltsam runden Eier ein, die nicht größer waren als die größten Murmeln. Er glaubte, im Rückspiegel zu sehen, daß der Vorhang hinter dem Fenster sich ein wenig bewegte. Hinter dem Schlafzimmerfenster des alten Lake. Aber sicher war er sich nicht. Er bog nach rechts ab und fuhr am Laden vorbei, neben dem das Motorrad gewartet hatte. Jetzt standen vor dem Laden ein blauer Lieferwagen und der gelbe Eskimo mit der Eisreklame als sicherer Frühlingsbote. Sejer kurbelte das Fenster herunter und spürte die sanfte Brise im Gesicht. Natürlich konnte ein sexuelles Motiv vorliegen, auch wenn Annie nichts anzusehen gewesen war. Vielleicht hatte es gereicht, sie auszuziehen, sie so liegen zu sehen, wehrlos nackt und ganz unbeweglich, während er sich zu der ersehnten Befriedigung verhalf und daran dachte, daß er es wirklich hätte tun können, wenn er gewollt hätte. In der Phantasie des Täters konnte sie alles mögliche durchgemacht haben. Natürlich konnte es so sein.
    Wieder überkam Sejer angesichts der vielen Möglichkeiten ein Gefühl des Unbehagens. Langsam fuhr er die Hauptstraße entlang und hielt vor der Kirche an. Ließ einen Trecker mit Kohlkästen vorbei und bog ab. Die verwelkten Blumen waren von Annies Grab verschwunden, und auch das Holzkreuz war entfernt worden. Jetzt stand ein Stein hier, ein ganz normaler Grabstein aus Granit, rund und glatt, wie vom Meer poliert. Vielleicht stammte er von einem der Strände, an denen sie im Sommer gesurft war. Er

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