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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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leise.
    Sie brauchten genau eine Stunde vom Block bis zur Kirche in der Innenstadt und zurück. Sejer dachte an seine Mutter, die er wirklich besuchen mußte, das letzte Mal war schon viel zu lange her. Irgendwann, dachte er mißmutig, würde seine Tochter Ingrid auf den Kalender blicken und dasselbe denken: Jetzt muß ich wohl mal wieder hin. Das letzte Mal ist schon so lange her. Ohne Freude, nur als eine Art Pflicht. Vielleicht hatte Skarre ja doch recht, vielleicht war es nicht richtig, so alt zu werden, daß man anderen nur noch zur Last fiel. Er fühlte sich von diesen Gedanken ein wenig überrumpelt und ging schneller. Kollberg sprang neben ihm her. Man konnte doch nicht einfach aufgeben!
    Er wollte das Badezimmer renovieren. Elise hätten diese Fliesen gefallen, da war er sich sicher. Und wenn sie gewußt hätte, daß die Badezimmerrenovierung immer noch ausstand, nein, er wagte nicht einmal, sich das vorzustellen. Acht Jahre mit Marmorimitat, wirklich eine Schande.
    Endlich konnte er sich den wohlverdienten Whisky gönnen, und es war so spät, daß er vielleicht doch einschlafen würde. Als er den Verschluß auf die Flasche drehte, schellte es. Skarre grüßte ihn nicht ganz so zurückhaltend wie beim letztenmal. Er war zu Fuß, rümpfte aber die Nase, als Sejer ihm einen Whisky anbot.
    »Hast du kein Bier?«
    »Nein, ich nicht. Aber ich kann Kollberg fragen. Der hat meistens unten im Kühlschrank einen kleinen Vorrat«, sagte Sejer sehr ernst. Er verschwand in der Küche und kam mit einem Bier zurück.
    »Hast du eine Ahnung, wie man ein Badezimmer fliest?«
    »Aber sicher. Hab mal einen Kurs gemacht. Wichtig ist, daß du bei den Vorarbeiten nicht schlampst. Brauchst du Hilfe?«
    Sejer nickte. »Wie findest du die hier?« Er zeigte auf den Katalog und die blauen Delphine.
    »Richtig schön. Was hast du jetzt?«
    »Marmorimitat.«
    Skarre nickte verständnisvoll und nahm einen Schluck Bier. »Der Fingerabdruck auf Annies Gürtelschnalle stammt nicht von Halvor«, sagte er plötzlich. »Holthemann war deshalb bereit, ihn bis auf weiteres laufenzulassen.«
    Sejer sagte nichts dazu. Er empfand eine Art mit Irritation gemischter Erleichterung. Froh, daß es nicht Halvor war, frustriert, weil sie sonst niemanden hatten.
    »Ich hatte einen scheußlichen Traum«, sagte er plötzlich, ein wenig überrascht von seiner eigenen Offenheit. »Ich habe geträumt, daß hinter dem Sessel da hinten ein fauler Apfel lag. Umlagert von riesigen schwarzen Fliegen.«
    »Hast du nachgesehen?« Skarre grinste.
    Sejer trank seinen Whisky und nickte. »Nur Wollmäuse. Glaubst du, der Traum hat etwas zu bedeuten?«
    »Es gibt sicher ein Möbelstück, das wir vergessen haben wegzurücken. Etwas, das die ganze Zeit herumsteht, ohne daß wir darauf achten. Der Traum ist einwandfrei ein Fingerzeig. Jetzt müssen wir diesen Sessel finden.«
    »Du meinst also, wir sollten in die Möbelbranche überwechseln?« Sejer schmunzelte über seinen eigenen Witz, schließlich brachte er nur selten welche.
    »Ich hatte gehofft, du hättest noch irgendeinen Trumph im Ärmel«, sagte Skarre. »Ich kann mich nicht damit abfinden, daß wir nicht weiterkommen. Die Wochen vergehen. Annies Ordner wird immer dicker. Und du bist doch der, der mit Rat kommt.«
    »Wie meinst du das?«
    »Dein Name.« Skarre lächelte. »Konrad bedeutet: der, der mit Rat kommt.«
    Sejer hob eine Augenbraue, nur eine, was sehr beeindruckend aussah. »Woher weißt du das?« »Ich habe zu Hause ein Buch. Darin schlage ich nach, wenn mir Menschen über den Weg laufen. Macht ziemlichen Spaß.«
    »Was bedeutet Annie?« fragte Sejer sofort.
    »Schön.«
    »Du meine Güte! Na, im Moment mache ich meinem Namen keine Ehre. Aber deshalb darfst du nicht den Mut verlieren, Jacob. Was bedeutet übrigens Halvor?«
    »Halvor bedeutet Wächter.«
    Er hat Jacob gesagt, dachte Skarre überrascht. Zum allererstenmal hat er Jacob gesagt.

DIE SONNE STAND TIEF am Himmel, die Sonnenstrahlen fielen schräg auf den Balkon und bildeten eine warme Ecke, in der sie ihre Jacken ablegen konnten. Sie warteten darauf, daß der Grill heiß wurde. Es roch nach Kohlen und Brennspiritus und Zitronenmelisse aus Ingrids Balkonkasten, denn sie hatte gerade gegossen.
    Sejer hatte seinen Enkel auf dem Schoß und ließ ihn schaukeln, bis seine Oberschenkelmuskeln weh taten. Mit diesem Kind würde etwas in ihm verschwinden. In wenigen Jahren würde er ihm über den Kopf gewachsen sein und grobe Sprüche bringen. Deshalb

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