Fremde Blicke
Musikkassetten.«
»Lesen Sie gern?«
»Eigentlich nicht. Aber ein volles Bücherregal macht sich gut.«
Er nickte verständnisvoll.
»Ist etwas passiert?« fragte sie dann vorsichtig.
»Ja, im Grunde schon. Aber wir wissen noch nicht, was es zu bedeuten hat.«
Sie nickte und nahm noch etwas aus dem Karton. Es war in Zeitungspapier eingewickelt.
»Sie kennen also Magne Johnas, S0lvi?«
»Ja?« sagte sie rasch. Sejer hatte den Eindruck, daß sie errötete, aber sie hatte ohnehin einen recht rötlichen Teint. »Er wohnt in Oslo. Arbeitet bei Trimskrams.«
»Wissen Sie, ob Annie und er je etwas miteinander hatten?«
»Miteinander hatten?« Sie blickte ihn verständnislos an.
»Ob sie zum Beispiel einen Flirt hatten, ob Magne je in sie verliebt war, ob er sein Glück bei ihr versucht hat. Vor ihrer Zeit, meine ich.«
»Annie hat nur über ihn gelacht«, sagte S0lvi in fast bedauerndem Tonfall. »Als ob Halvor etwas zum Vorzeigen wäre! Magne sieht immerhin wie ein Junge aus. Ich meine, er hat Muskeln und so.«
Sie riß und zerrte an dem Zeitungspapier herum und wich seinem Blick aus.
»Könnte sie ihn beleidigt haben?« fragte er behutsam, als im Papier etwas Glänzendes zum Vorschein kam.
»Das kann ich mir vorstellen. Annie hat es nicht gereicht, einfach nein zu sagen. Sie konnte ziemlich spitz werden, und für Muskeln hatte sie nichts übrig. Alle reden dauernd darüber, wie lieb und hilfsbereit sie war, und ich will auch nicht schlecht über meine Schwester sprechen. Aber sie war oft gehässig, nur traut sich jetzt niemand, das zu sagen. Weil sie tot ist. Ich begreife nicht, wie Halvor das ausgehalten hat. Annie wollte immer alles bestimmen.«
»Ja?«
»Aber zu mir war sie lieb. Immer lieb.«
Für einen Moment machte sie ein erschrockenes Gesicht, als sie an ihre Schwester und das, was passiert war, dachte.
»Wie lange sind Sie schon mit Magne zusammen?« fragte Sejer höflich.
»Nur ein paar Wochen. Wir gehen ins Kino und so.«
Die Antwort war ziemlich rasch gekommen.
»Er ist jünger als Sie?«
»Vier Jahre«, sagte S0lvi widerwillig. »Aber er ist ziemlich reif für sein Alter.«
»Aha.«
Sie hielt etwas ins Licht und betrachtete es mit zusammengekniffenen Augen. Ein Bronzevogel auf einer Stange. Ein kleines molliges Stück Federvieh mit schräggelegtem Kopf.
»Das scheint kaputt zu sein«, sagte sie unsicher.
Sejer starrte sie überrascht an. Der Anblick traf ihn wie ein Pfeil. Der Vogel sah aus wie ein Grabschmuck, wie man ihn auf den Gräbern kleiner Kinder findet.
»Ich kann vielleicht aus Salzteig einen neuen Fuß machen«, überlegte S0lvi. »Oder mein Vater kann mir helfen. Es ist doch wirklich ein schöner Vogel.«
Sejer brachte keine Erwiderung über die Lippen. Das Bild einer anderen Annie, einer facettenreicheren Annie als die, die Halvor und ihre Eltern ihm gezeigt hatten, nahm langsam Form an.
»Was mag das wohl sein?« murmelte er. S0lvi zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Einfach eine zerbrochene Zierfigur, nehme ich an.«
»Sie haben sie noch nie gesehen?«
»Nein, ich durfte Annies Zimmer nicht betreten, wenn sie nicht zu Hause war.«
Sie legte den Vogel auf den Schreibtisch. Dort wackelte er auf seinem Fuß hin und her. Dann machte sie sich wieder über den Karton her.
»Sie haben Ihren Vater schon lange nicht mehr gesehen?« fragte Sejer leichthin, während er den immer langsamer wippenden Vogel anstarrte. Sein Gehirn arbeitete unter Hochdruck.
»Meinen Vater?« Sie richtete sich auf und blickte ihn verwirrt an. »Sie meinen - meinen Vater in Adamstuen?«
Sejer nickte.
»Er ist zu Annies Beerdigung gekommen.«
»Er fehlt Ihnen doch sicher?«
Sie gab keine Antwort. Sejer schien etwas berührt zu haben, das sie nur selten hervorholte und sich genauer ansah. Etwas Unbehagliches, das sie vergessen wollte, vielleicht einen Hauch von schlechtem Gewissen, etwas, wofür andere verantwortlich waren, ungeschriebene Gesetze, die sie immer befolgt und widerstandslos akzeptiert hatte, da sie nie begriffen hatte, was eigentlich dahintersteckte. Sejer kam sich ein wenig aufdringlich vor. Er mußte doch Rücksicht nehmen, mußte sich den Leuten behutsamer nähern, durfte ihnen nicht auf die Zehen treten.
»Wie nennen Sie Eddie?« fragte er vorsichtig.
»Ich nenne ihn Papa«, antwortete sie leise.
»Und Ihren wirklichen Vater?«
»Den nenne ich Vater«, sagte S0lvi einfach. »Schon immer. Er wollte das so, er war immer so altmodisch.«
War. Als ob er nicht mehr
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